Sabine Herrmann
Altarverhüllung in der Paul-Gerhardt-Kirche, Berlin
9. März – 24. April 2011
Fass mich nicht an!
Sabine Herrmanns künstlerische Deutung des Ostergeheimisses
Einen ungrundierten, groben Jutestoff, auf einem Keilrahmen gespannt, hat Sabine Herrmann mit unendlich vielen weißen Pinselstrichen ‚grundiert’ und darüber graue und orangefarbene Striche gesetzt, die am rechten Bildrand immer dunkler werden. Darüber hat sie in der Art von Weißhöhungen wiederum weiße Striche gesetzt, die sich mit den orangeroten und grauen Tönen mischen. Die Farben entsprechen dem Farbschema der Paul-Gerhard-Kirche, aber auch dem Farbspektrum des verdeckten ursprünglichen Altarbildes.
Aus größerem Abstand gesehen, zeichnet sich eine weiße, leicht orange-rötlich eingefärbte Fläche ab, die sich wie eine lodernde Flamme über einer dunkelgrauen Bodenwelle erhebt und das Dunkel durch ihre leuchtende Energie überwindet. Gegenüber den dunklen Partien nimmt die funkelnde Lichterscheinung etwa zwei Drittel der Bildfläche ein. Sie wird von einem kompakt dunklen Streifen rechts gerahmt, den man als ‚Baumstamm’ lesen kann. Er lässt den Blick in eine Landschaft mit Blitzschein assoziieren.
Wie ein Bild im Bild setzt sich die mit dichten hell-dunkel gestrichelten Streifen bedeckte Fläche asymmetrisch nach rechts ab vom ungrundierten Jutestoff. Weiße Striche überschreiten bewusst diesen inneren Bildrahmen, mit der Tendenz ihn aufzulösen.[1] Die Gesamtkomposition wirkt wie der Abdruck eines Druckstocks.
Das Bild deckt passgenau das Gemälde des Spätnazareners Gerhard Noack aus dem Jahr 1910 ab und übernimmt damit seinen neogotischen Rahmen, der in einem reizvollen Kontrast zur abstrakten Komposition von Sabine Herrmann steht.Noack zeigt einen den Arm zum Segen erhobenen Christus im weißen Gewand und strahlendem Heiligenschein vor einer düsteren Landschaft im Morgengrauen.
Hermanns Bild, mit dem die Reihe der von Künstlern gestalteten Fastentücher 2011 begonnenen hatte, widerspricht allerdings der ursprünglichen Intention, das Osterbild des bereits aus dem Grab gestiegenen Christus mit einem Passionsbild zu verhüllen. Denn ihre Übersetzung des akademisch gemalten, naturalistisch ausformulierten aus dem Grabe auferstandenen Jesus Christus, der noch auf Erden weilt, in eine vom Körper und der ihn umgebenden Landschaft abstrahierende Lichterscheinung, die sich aus einer dunklen Zone im unteren Drittel erhebt, ist natürlich auch ein Osterbild, aber ein entmaterialisiertes. Vergleicht man ihr Fastenbild mit dem verdeckten Urbild, zeigt sich, dass die Proportionen der unteren dunklen Landschaftszone und der hellen oberen Zone (Christus mit Heiligenschein) bzw. die abstrakte Lichtmanifestation in beiden Bildtafeln in etwa übereinstimmen.
Noacks Christus erinnert auch ohne die Figur der Maria Magdalena an die Szene, in der Christus zu ihr sagt: „Rühre mich nicht an (Noli me tangere), denn ich bin noch nicht zum Vater aufgestiegen.“[2] Diese Textpassage ist theologisch unterschiedlich gedeutet worden, z.B. in dem Sinne, dass Maria den Herrn nicht festhalten solle, damit er weiter zu Gott Vater aufsteigen und dort Beistand für die Menschheit erbitten könne. Die Bibelstelle lässt sich aber auch so deuten, dass Christus, wie auch die Menschen am Tag des Jüngsten Gerichts, nicht leiblich aus den Gräbern steigen, sie sind ja dann verwest oder verbrannt, sondern dass die vom Leib getrennte Seele, dank ihrer bildenden Kraft, einen neuen Leib schafft, der dem ähnlich ist, den sie im Leben besaß, aber ohne greifbare Materie ist. „Der Geist ist astralen Ursprungs und begleitet die Seele von ihrem Abstieg bei der Verkörperung bis zur Rückkehr bei der Erlösung. Er kann sich in ekstatischen Zuständen vom Leib lösen. […] Für die medizinische Vorstellung des 16. Jahrhunderts ist der Geist ein Produkt der Verbrennung der Nahrungsmittel und bildet den subtilen Teil des Blutes, sein Sitz ist im Herzen, wo er Lebensgeist genannt wird. Diese Diskussion um Körper und Geist ist um 1500 allgegenwärtig.“[3]
Der Florentiner Frühmanierist Jacopo Pontormo war überzeugt davon, dass das menschliche Fleisch gebrechlich und leidend, der Geist aber hellwach sei, und dass er deshalb seinem Leib den Entwurf seiner Werke abringen muss. Entsprechend plante und kontrollierte Pontormo seine Nahrungsaufnahme, da der Geist sich vom Stoffwechsel nährt.[4] Deshalb malt er seine Körper durchscheinend, von innen leuchtend als von der Materie befreite Geistwesen.
Auf seinem Gemälde Heimsuchung (1528-29) in der Kirche San Michele in Carmignano hat er die Figuren von Maria und Elisabeth verdoppelt. Die junge Begleiterin ist der jungen Maria, die ältere Begleiterin der älteren Elisabeth zugeordnet. Ihre Körper sind in ein magisches Licht getaucht, ihre Füße schweben leicht über dem Boden. Hinter Maria und Elisabeth erscheinen, in dieser Deutung der Heimsuchungs-Szene, ihr jeweiliger Luftleib, wie er nach ihrem leiblichen Tod sich vom Körper löst. Derselbe Geist, der das Kind im Leibe der schwangeren Frauen formt, werde auch ihren Luftleib nach dem Tode bilden.[5]
Auch wenn sich Sabine Herrmann dem geplanten Passionsthema und dem Fastentuch verweigert, so übersetzt sie doch die kitschige Christusfigur des spätnazarenischen Malers mit seinem verlogenen Erlösungsversprechen in ein modernes Verständnis des Ostergeheimnisses, wie es Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte formuliert hat: „Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist.“[6]
Sabine Herrmanns Bild löst Hegels Mahnung in ihrer Malerei ein. Sie übermalt alle materiellen und sinnlichen Vorstellungen einer Himmelfahrt Christi und hebt sie auf in einem Entwurf unserer eigenen, spirituellen Existenz. Sie zeigt, wie unsere schöne Seele selbst geistige Substanz produziert, die in die Welt ausströmt und sie zu einem besseren Ort machen kann. Wir selbst sind verantwortlich für unsere Heilssuche und das Heilsversprechen können nur wir selbst einlösen. Dazu müssen wir nicht „im Grabe bei den Toten“ suchen wie Petrus und die anderen Jünger oder Maria Magdalena (Joh. 20, 1-8), sondern unsere Seele erforschen und verstehen als eine geistige Energie. Im Gegensatz zu Noacks überpräsenten Christus, der uns zuzurufen scheint, fass mich doch an, damit Du glauben kannst, sendet Sabine Herrmanns Gemälde die Botschaft aus: Fass mich nicht an, denn die Wahrheit liegt nicht in dem „vereinzelten äußerlichen Dinge“.
Eckhart Gillen, Kunsthistoriker und Kurator
Quellenangaben
[1] Sabine Herrmann wurde, wie sie sagt, zu dieser Kompositionsidee angeregt durch Georg Meistermanns Gemälde „Fastentuch“ von 1960, das über einem leuchtenden hellen Hintergrund als dunkelrot-schwarze Fläche erscheint, die nach unten in tiefes Schwarz übergeht.
[2] Joh. 20,17. Das Neue Testament, übersetzt von Fritz Tillmann, München 1962. Vgl. das Gemälde „Noli me tangere“ (1835) des akademischen russischen Malers Alexander A. Iwanow (1806-1858).
[3] Christoph Bertsch, Jacopo Pontormo. ‚Vier Frauen’ in Carmignano. Ein Hauptwerk des Manierismus im Spannungsfeld der politischen und geistigen Umbrüche der zweiten Florentiner Republik, Wien, Köln, Weimar 2000, S. 81f.
[4] Vgl. Jacopo Pontormo, Il Libro Mio, München 1988. In diesem Tagebuch, das er von Januar 1554 bis Oktober 1556 führte, notierte er sein tägliches Essen, das schlechte Wetter, die körperliche Anstrengung, seine Beschwerden und seine Darmstörungen, dazwischen kommentiert er übergangslos Ergebnisse seiner künstlerischen Arbeit: „Donnerstagfrüh zwei feste Würste gekackt, sie kamen raus, als wären’s lange, weiche Baumwolldochte, das heißt aus weißem Fett; ziemlich gut war das Abendessen in San Lorenzo, vortreffliches Siedfleisch und die Figur war fertig.“ (S. 61)
[5] Vgl. R. Klein, Spirito Peregrino. Der Gedanke des pilgernden Geistes, in: ders., Gestalt und Gedanke. Zur Kunst und Theorie der Renaissance, Berlin 1996, S. 26.
Vgl. auch Bertsch, Pontormo, wie Anm. 3, S. 79-82.
[6] G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M 1986, Werke 12, S. 471f.
Veranstaltungen
9. März 2011, 18 Uhr,
Eröffnung
mit Pfarrerin Uta Fey und Galeristin Petra Weber-Schwenk
Musik: Schulz & Kaufmann
Anschließend bietet sich Gelegenheit zu Gespräch und Begegnung bei Brot und Wein.
Ein Programm für Kinder wird angeboten.
30. März 2011, 19 Uhr
Passionsandacht
mit Pfarrer Heinz-Otto Seidenschnur
20 Uhr, Zur Ikonographie von Kreuz und Passion
Vortrag von Eckhard Fürlus, UdK-Berlin
Flyer, Presse: Berliner Zeitung, Tagesspiegel