
Sabine Herrmann
Altarverhüllung in St. Johannes Nepomuk, Chemnitz
22. Februar – 20. April 2025
Zeuginnen ohne Text – Was am Kreuzweg passiert ist, haben Männer aufgeschrieben.
Mit dem Palmsonntag tut sich ein Weg auf. Jesus geht die letzten Schritte seines irdischen Lebens. Zweimal werden wir in. dieser Woche die Passionsgeschichte hören. In welche Rolle schlüpfen wir im heiligen Spiel dieser tiefen Geheimnisse und hohen Liturgien unseres Glaubens? Sind wir Zuschauende oder werden wir Zeuginnen und Zeugen? Von den Frauen, die immer wieder in der Weggemeinschaft Jesu auftauchen, ahnen wir, dass sie bei seinem Einzug in Jerusalem dabei waren. Die Abendmahlsbilder wissen mehrheitlich nichts von ihnen. Sicher aber ist, dass die Frauen am Karfreitag auf seiner Spur blieben, während sich die am Vorabend eindrucksvoll inszenierten Jünger bis auf einen verdünnisierten.
In der Chemnitzer Propsteikirche hängt in dieser Fastenzeit eine Altarverhüllung, die die Berliner Künstlerin Sabine Herrmann eigens für diesen Ort geschaffen hat. Sensibel greift das zweieinhalb mal sechs Meter große papierne Tuch den warmen Farbton des Rochlitzer Porphyrs auf, der den Kirchenraum prägt. Wer näher herantritt, erkennt ein Gewirr von Worten und Wortgruppen: „klagten … Schwert durchdringt … großer Menge … zuschauen … Johanna …“.
Es sind Zitate, die im Zusammenhang mit der Leidensgeschichte Jesu stehen. Und sie handeln allesamt von Frauen. Sabine Herrmann erzählte bei der Liturgie zur Verhüllung, wie lange und wie oft sie auf dem Boden kauernd diese Worte geschrieben, wieder ausradiert und ausgewaschen und erneut geschrieben hat. Es ist ein Palimpsest der besonderen Art und eine tiefgründige Umsetzung des Mottos der Kulturhauptstadt Chemnitz: C the Unseen. Das C, das zunächst für Chemnitz steht, soll englisch ausgesprochen werden und wird dann zur Einladung: See the Unseen – „Schau auf das Ungesehene“. Das Fastentuch verhüllt bis zur Osternacht die Apsis mit der Statue des Auferstandenen, der damit zum Ungesehenen wird.
Feinsinnig und zugleich in größter Wucht verweist es auf ein weiteres „Ungesehenes“. Wer nämlich, inspiriert vom Wortgeflecht auf dem Fastentuch, in die Evangelien schaut, wird entdecken, dass im Zusammenhang mit der Passion tatsächlich immer nur über Frauen berichtet wird. Sie sind „Zeuginnen ohne Text“. Es gibt keine wörtliche Rede, obwohl man doch wohl annehmen darf, dass die Frauen auch etwas gesagt haben. Aber dies ist den Verfassern der Evangelien nicht der Rede wert. Die Frauen sind die direkten Zeuginnen dessen, was geschehen ist. Aber wir erfahren es nicht aus ihrem Munde. Ziemlich mittig auf Augenhöhe des Fastentuchs findet sich ein einziges Wort, das unterstrichen ist: „es“. Die Frauen haben „es“ erlebt, sind mitgegangen, haben ausgehalten und haben ihrem Empfinden Ausdruck verliehen. Was hier am Kreuzweg passiert, „es“ macht sprachlos. Und „es“ hat Zeit gebraucht, bis es aufgeschrieben wurde. Männer fühlten sich berufen, „es“ aufzuschreiben. Sie erklärten das Zeugnis der Frauen zum Geschwätz. „Es“ deutet vielleicht auf die systemische Dimension der Zurücksetzung der Zeuginnen, die „Er“ überwunden hat.
Benno Schäffel ist Propst der Pfarrei Heilige Mutter Teresa in Chemnitz und gehört zum Kernteam der Kulturkirche 2025.
Presse: Tagesschau/mdr