Michael Morgner

Altarverhüllung im Freiberger Dom
24. Februar – 30. März 2024

Ecce homo

„Ecce homo“, „Siehe, der Mensch!“ – der Ausruf im Johannesevangelium könnte das Lebensmotto für die Kunst Michael Morgners sein. Der gebeugte, geschundene, schutzsuchende, der aufrechte, stolze, selbstbewusste und der aufsteigende, über sich hinauswachsende Mensch – dafür hat der 1942 in Chemnitz geborene Michael Morgner markante, abstrahierte Formen gefunden, die in vielen seiner Werke auftauchen. Auch in dem Fastentuch, das in der Passionszeit 2024, von Aschermittwoch bis Ostern, den Altar des Freiberger Doms St. Marien verhüllt. 

Michael Morgner, Freiberger Dom, Altarverhüllung, 2024, Fotos: Markus Rheinfurth

Die hellen und dunklen, erdigen Braun- und Ockerfarben des aus knapp 60 hauchdünnen Seidenpapierblättern zusammengefügten Bildes korrespondieren mit den Farben des Steins im Dom, obwohl Michael Morgner vor drei oder vier Jahren, als er die sich nun sanft im großen Kirchenraum bewegenden Blätter bedruckte, nicht wusste, an welchem Ort und ob sie überhaupt einmal irgendwo hängen werden. „Vielleicht“, sagt der Künstler, „liegt es daran, dass ich aus der Gegend komme. Chemnitz, Erzgebirge, das ist mir nahe.“ So erklärt sich vielleicht eine unbewusste Affinität zur Architektur und zu den Farben des Doms. Die einzelnen Blätter sind in Morgners ganz eigener Technik mit dunkler Lackfarbe bedruckt – von fast unsichtbar dort, wo das Papier die mit Farbe bestrichene Druckplatte mit der Symbolform des aufrechten Menschen kaum berührt, nur gestreichelt hat, bis kräftig erdig braun dort, wo Farbe und Papier heftig in Berührung kamen. So oszilliert auch die menschliche Figur zwischen Auftauchen und Verschwinden. Zudem nehmen die Blätter die Knitter des Papiers wie Narben des Lebens auf.  Anschließend hat der Künstler die Papiere so zusammengefügt, dass sich ein Farbverlauf vom Hellen unten ins Dunkle nach oben ergibt. Eingearbeitet sind der Schriftzug „Ecce Homo“ und eine gebeugte Figur, die eine Last zu tragen scheint. Der Luftzug in der Kirche bewegt sanft das Bild und lässt die Last so etwas leichter erscheinen oder deutet gar eine Auferstehung an, die den Menschen sowohl erinnernd für die Erde bewahrt wie auch in der Weite des Himmels aufgehen lässt. 

Die christliche Symbolik ist Michael Morgner nicht fremd, obwohl er sich selbst gar nicht als religiös bezeichnet. Aber eine Skulptur von Peter Breuer im Freiberger Stadt- und Bergbaumuseum, der „Schmerzensmann“ oder auch „Christus in der Rast“ mit dem geschundenen Rücken des Jesus, habe ihn als Jugendlicher so sehr beeindruckt, dass er ihm prägend für sein gesamtes Werk erscheint. Dieser gepeinigte Rücken finde sich bei ihm auf jedem Blatt, sagt Morgner. Er steht sinnbildlich für die Erfahrungen der Unfreiheit in der DDR, als Morgner mit der oppositionellen, unangepassten Künstlergruppe und Produzentengalerie Clara Mosch (gemeinsam mit Carlfriedrich Claus, Dagmar Ranft-Schinke, Thomas Ranft und Gregor Torsten Schade, heute Kozik) nicht nur bekannt wurde, sondern auch ins Visier der Staatssicherheit geriet. Seine Figuren stehen aber auch für Leidensfähigkeit und Widerstand, die Kraft und die Fähigkeit des Menschen, tapfer und menschlich zu sein. 

Michael Morgners „Fastentuch“ tritt damit sanft wehend vor dem reich verzierten Altar des Doms in einen spannenden Dialog mit der gotischen Kunst des Freiberger Doms, die die Menschen in ihrem irdischen Ringen ebenso darstellt wie biblische Szenen um das Leben und Sterben Jesu. Indem das Fastentuch den Altar, das Zentrum der Kirche, verhüllt, in der Passionszeit unsichtbar macht, lenkt es den Blick der Menschen auf sich selbst und ihr eigenes Verhältnis zu Gott und der Welt. 

Die Altarverhüllung im Freiberger Dom 2024 geht auf eine Initiative der Kirchgemeinde zurück. Im vergangenen Jahr war die Altarverhüllung im Dom Teil des Purple Path um und in Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025. 

Matthias Zwarg

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