Matthias Flügge, Katalog "Joachim Völkner", 1987
Trak Wendisch, Katalog"Joachim Völkner", 1987
Christoph Tannert, Katalog "Joachim Völkner", 1987
Joachim Völkner, Tagebuch, 1982
Joachim Völkner, Von Königen und Künstlern oder ...Kurzer Blick über die kalte Schulter, 1981
Joachim Völkner, Über Vor- und ihre Nachbilder
Joachim Völkner, Die Kunst der Deutschen Demokratischen Republik, um 1979/80
Joachim Völkner, Jakob , um 1982
Joachim Völkner, Herr K. ist unterwegs

Matthias Flügge
Katalog "Joachim Völkner", 1987

JOACHIM VÖLKNER: „Ich werde mich nicht abfinden mit dieser ewigen Kluft zwischen Kunst und Straße. Sicher ist es geruhsamer, diesen Abgrund als gegeben und unabänderlich anzusehen, das Akzeptieren des Unüberbrückbaren bedeutet aber Abkopplung, Rückzug nach oben, in den Turm. Das ist nicht mein Weg."
Sein ästhetisches Credo steht in seinen Texten. Für ihn hat es niemand formuliert. Es könnte wohl auch niemand besser.
Als Joachim Völkner am 10. 2. 1986, 36jährig starb, blieben diese Texte, etwa 100 Gemälde und ein Schrank voll Zeichnungen. All die hehren Vokabeln, die sich aufdrängten, wollten nicht passen. Völkner war nicht „früh vollendet", auch wurde er nicht „mitten aus der Arbeit gerissen". Er war eine tragisch disponierte Natur, seine Rastlosigkeit, ein mitunter unversöhnlicher moralischer Rigorismus, den er ebenso gegen sich selbst kehrte, rücksichtslos die eigenen Kräfte ausbeutend, mögen einer Ahnung gefolgt sein. Er hatte keine Zeit zur Geduld. Am 11.3. 1982 notiert er ins Tagebuch: „Meine letzten Arbeiten sind gezeichnet von sonderbarer Eile, als würde mir die Zeit knapp." Noch gut drei Jahre blieben, bis ihn die Krankheit einholte.
1977 sah er Gerhard Kettners Zeichnungen der Mutter auf dem Totenbett. Spontan schrieb der sonst so Kritische einen Brief: „Die Porträts sind ungefähr das, was ich mit meinem Bleistift einmal erreichen will, Gesichter, die eine Seele haben..." Und er versäumte nicht, dem ehemaligen Rektor der Dresdener Kunsthochschule mitzuteilen: „Ich bin Autodidakt. Ich habe nicht studiert, ich wollte es auch nicht." Daraus spricht ein gewisser Stolz auf eine heutigentags fast schon außergewöhnliche Künstlerbiographie. Der Lebenslauf gibt keine Auskunft, was den im proletarischen Milieu des Prenzlauer Berges Aufgewachsenen zur Kunst bewogen haben mag. Der euphemistisch sogenannte „Montparnasse" der Berliner Malerei der 60er Jahre war es gewiß nicht. Eher spielte wohl Instinkt eine Rolle und der Wunsch, die frühen Erfahrungen uneingelöster Ansprüche auszudrücken, die ein hellwacher Sinn für die Dialektik des Sozialen und des Individuellen gemacht hatte. Daraus resultierte ein starkes Verantwortungsgefühl. Den seinerzeit vielgebrauchten Begriff der „Menschengemeinschaft" nahm Völkner sehr ernst, nur daß er diese als längst noch nicht erreicht ansah. Die Beobachtung bestätigte das: Nirgends anderswo traten soziale Probleme und Differenzierungen so deutlich zutage, wie dort, wo Joachim Völkner seine Kindheit und Jugend verbrachte. Er lernte, den Prenzlauer Berg „von unten" zu sehen; das behütete vor falscher Romantik. Die Stadtlandschaft, deren Darstellung sich leitmotivisch durch die Berliner Malerei der vergangenen zwei Jahrzehnte zieht, hat den Künstler nie interessiert. Sie war ihm kaum mehr als selbstverständliche Kulisse seelischer Aktion, auf die es einzig ankam.
Die Anfänge waren bescheiden. Kaum daß die Museen nennenswert als Bildungserlebnis in Betracht kamen. Zufällig gefundene Van-Gogh-Reproduktionen, klassische Musik aus dem Radio; bruchstückhaft vermittelte Medienkultur war wichtiger als die belanglose Kunsterziehung in der Schule. Im Grunde war dies ein proletarischer Lebenslauf mit allen Problemen der Orientierung, allen Schwierigkeiten der Selbstfindung als künstlerisches Subjekt, aber auch mit der unschätzbaren Freiheit von der ästhetischen Konvention. Kunst war ihm nichts Lernbares; er begriff sie als Ziel seiner Lebenstätigkeit, nicht als deren Produkt. Wären die Verhältnisse nicht inkommensurabel, man müsste diesen Werdegang mit Otto Nagel vergleichen. Die abgebrochene Autoschlosserlehre paßt ebenso ins Bild wie der zaghafte Annäherungsversuch an die Kunst durch Plakatmalerausbildung bei der DEWAG. All dies ging spurlos vorbei, hielt aber den Horizont offen für Völkners eigentliche Kulturerfahrung - die Literatur. Er teilte die Tageszeiten nach den Büchern, die er las. Aus wahllos suchender Lektüre kristallisierte sich alsbald das Wesentliche heraus: Kleist, Hölderlin, Dostojewski, Kafka, TrakI - man vergegenwärtige sich ihre Schicksale. Wie ein Leitbild blieb die menschliche Integrität der Rosa Luxemburg bestimmend. Hinzu kam die Liebe zur Musik, die ihm zwischen Schubert und Schönberg unerahnte Entdeckungen bescherte. Die Vorbilder der Außergewöhnlichen, zwanghaft Kreativen, einem kategorischen Imperativ Folgenden halfen ihm, die schmerzlich empfundene Gewöhnlichkeit der eigenen Existenz zu überwinden. Die Ansprüche jedoch, die daraus an das aufzubauende Werk erwuchsen, ließen die Spannungen, unter denen der Maler produzierte, zuweilen eskalieren. Immer wieder übermalte und vernichtete er für ungenügend befundene Arbeiten, den sich wandelnden, stets als absolut betrachteten Kriterien fiel manches Zeugnis zum Opfer. So sind aus den Anfängen nur wenige Bilder erhalten, Wegmarken aus dem Dilettantismus. Und doch ist in ihnen schon der Drang zur Obersteigerung. Nichts gilt der schöne Schein; es sei denn als Verlockung, der zu widerstehen ist. Ein Beispiel: „Das Frühstück". Der ermüdete Arbeiter am Tisch, grau die Atmosphäre, ein Bild resignativer Ermattung in spätestnaturalistischem Geist. Daß diese Reduktion auf eine vorgewußte „Aussage" in die Sackgasse führen mußte, weil die kritische Idee so eindimensional sich nicht zum Bild formen ließ, war dem Maler bald deutlich geworden. Vor allem stellten sich die sozialen Fragen auf dem Boden des Sozialismus ungleich differenzierter. Daß sein Prenzlauer Berg sich von dem der Kollwitz oder Nagels Wedding grundlegend unterscheidet, war Völkners tiefe Überzeugung. Gerade deshalb leistete er sich seine Utopien und hatte eine gelegentlich anarchische Lust an dem, was er seine „Ketzernatur" nannte. Zufriedenheit, meinte er, sei kunstfeindlich, Zynismus rief gar seinen Hass hervor, und auf Ironie reagierte er meist verständnislos Moralisten ungeratener Bruder ist der Eiferer. Daher kam die Einsicht:,,...in einer Gesellschaft lebend, die den Kommunismus zum Ziel hat ............... , muss ich meine Antihaltung beschränken auf die...Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit, auf das Manko zwischen Soll und Haben." Und klarsichtig schrieb er weiter: „Die in mir lauernde geistige Militanz zur Bekämpfung aller Reaktion und Regres sion erfährt Bestärkung in den Methoden der materialistischen Dialektik, die kritische Motorik bekommt hier das nötige ideologische Fundament und den kürzesten Schusswinkel: die Personifikationen des 'nichtantagonistischen' Widerspruchs laufen von selbst in meine Pinsel." Dieser Ansatz ist weitaus optimistischer als die Bilder oftmals zu erkennen geben, wenn sie aus „Schmerz, Bitterkeit und zweifelnder Hoffnung" gemacht sind.
In den Kinderbildnissen der ausgehenden siebziger Jahre erreichte Joachim Völkners Kunst einen ersten Höhepunkt. Er arbeite damals als Kindergartenhelfer. Das war mehr als finanzielle Absicherung auf dem Weg zum freiberuflichen Maler. Hier fand seine Überzeugung von der gesellschaftlichen Nützlichkeit der Kunst eine unmittelbar praktische Entsprechung. In diesen Kindern sah er eine größere als nur „zweifelnde" Hoffnung und zugleich sein Sinnbild einer zukunftsorientierten Sozietät. Das, was er an Befunden der Einsamkeit, fahlem Widerschein grauer Mauern und virtuellem Unglück in diese Porträts legte, war einer ständig am Ideal gemessenen Erfahrung geschuldet. 1975 hatte die Malerin Heidrun Hegewald mit dem Gemälde „Mein Ball" das Thema gestörter Familienbeziehungen erstmals in der Berliner Kunst diskussionsfähig gemacht und auf anekdotisch dramatisierte Weise einen Nerv der Betrachter getroffen. Völkner versuchte nun den psychologisierenden künstlerischen Gegenentwurf, der das Unerfülltsein kindlicher Ansprüche in schweigendmitteilsamen Köpfen ausdrückte. Die Malerei ist pastos, in mit kurzer Pinsel-spur aufgetragenden Farben entfaltet sich ein auratisches Leuchten. Völkner gibt das Kind als Individuum und zugleich dessen Mythos unverstellter Emotion. Die zehrende Suche des Malers nach dem Unverbildeten, Lebens- und Seelenvollen, nach den Kaspar-Hauser-Naturen ebenso wie nach Gleichgesinnten prägt sein Porträtschaffen über die Kinderbildnisse hinaus. Wo sie erfolglos blieb, hielt er seine Deutungen in Idealporträts fest, etwa von Dostojewski oder Beuys. Sehr gern wäre er Franz Fühmann begegnet, doch der bat ihn per Brief „herzlich, nicht an meine Tür zu klopfen", da ihm die Arbeit vorging. So malte Völkner zwei Bildnisse dieses Mannes, den er für die wichtigste moralische Instanz unter den Schriftstellern des Landes hielt, aus der Ferne, nach selbst in öffentlichen Veranstaltungen aufgenommenen Fotografien. Für Völkner waren dies auch „Idealporträts" eines mahnenden Gewissens. Wiewohl sie aus der Beobachtung entstanden, ist eine zitternde Ergriffenheit, eine leidvolle Hypersensibilität darin, die eine Projektion von des Malers Selbstgefühl ist und den einzelnen Menschen fast schon überfordert. Vor allem Fühmanns Erinnerungsarbeit an der deutschen Vergangenheit schien Völkner unersetzbar. Die eigene Lebensmaxime, keinen Abstand zuzulassen, alle Beunruhigungen auf sich zu nehmen und auszutragen, hat ihm als Nachgeborenem die faschistische Barbarei als permanentes Menetekel vergegenwärtigt. Dabei bedeutete ihm Vergangenheitsbewältigung unbedingt Verantwortung für die Gegenwart. Malen konnte und wollte er nur das selbst Erfahrene. Auf die Zuspitzung der weltpolitischen Widersprüche am Beginn dieses Jahrzehnts, auf die Diktaturen Lateinamerikas, das neue Selbstbewusstsein der Reaktion in den USA reagierte Völkner im Tagebuch analytisch scharfblickend und bildnerisch als „Menschensucher": Wieder waren es Porträts von solchen, die sich selbst behaupten, noch in der Verletzung Würde bewahren. Vordergründige politische Etikettierungen blieben somit außerhalb. Völkner steigerte seine Köpfe ins Expressive, überlängungen der anatomischen Formen, hypertrophierte Sinnesorgane, gestalterische Konzentration auf die Augenpartien - so treten uns die Porträtierten in einer schutzlosen Direktheit gegenüber. Die Malerei bleibt bewusst „unperfekt", nichts soll sich hinter Firnissen verbergen. Manches erinnert schon an den ;,Schmerzensmann" der spätgotischen Tradition, ist personifiziertes Leid. Wer dies mit realer Abbildhaftigkeit verwechselt, missversteht Völkners Absicht. Sein Glauben an die Kraft und letztliche Siegesfähigkeit des Humanen war trotz aller Irritationen von Bestand. Er trug fast schon religiöse Züge und suchte nach adäquaten Formen. Völkners ethische Ideen von dem einzelnen und der Gemeinschaft gingen dann auch an die Quellen des Thomas von Aquin zurück. Als Atheist dachte er über die Korrespondenzen der „Großen Hoffnung" des Christentums und der des Marxismus nach, die Konrad Farner in seinen späten Schriften analysiert hat. Von daher mag die „geheime Gotik" seiner Bilder rühren. Worringer beschreibt die gotische Form analog dem scholastischen Denken als „Transzendentalismus, der, einem ungeläuterten und ungeklärten Dualismus entspringend, nur in hysterischen Affektzuständen, in krampfartigen Steigerungen, in pathetischen Überspannungen Befriedigung und Erlösung finden kann." Und Völkner schreibt: „Ich sehe in der Kunst eine expressionistische Gotik kommen. Die ideologischen Hysterien der Zeit haben diese Form, ein fanatisches Höherstreben, alle Menschlichkeit zerfasernd. Das schreit nach Ausdruck, Notwehr! Nervöse Striche, die angegriffenen Seelen der Gegenwart. Ein apokalyptisches Bildnis wäre zu malen: der Mensch, entwaffnet, wehrlos, vergewaltigt, sein Körper zu Streichholzdünne zerrieben Ekstatische Hagelstürme, die Tage."
Aber nicht immer halten die Bilder solchen Emotionen stand, Völkners Form erweist sich dann als über die Maßen beansprucht. Der Skeptiker in ihm registrierte diese Kluft sehr genau, und der Maler suchte sie im Inhaltlichen zu kompensieren. Schon von den Kinderbildnissen führt eine Linie zu narrativen Bildauffassungen. 1981 stellte Völkner in der Berliner Bezirkskunstausstellung eine Kindergruppe inmitten verschachtelter Hinterhofwände aus. Es war sein Debüt im Künstlerverband, dem er seit 1980 angehörte, und wurde kaum zur Kenntnis genommen. Fortan beschäftigten ihn literarisie-rende Kompositionen in immer stärkerem Maße. Das Bemühen, außerhalb der gängigen Mythosadaptionen der DDR-Kunst eine Form zu finden, die vor allem biblische Stoffe in bedrängender Aktualität darzustellen imstande ist, riss ihn in die Obsessionen seiner letzten Lebensjahre. Die zielsichere Geste war ihm, dem scheinbar so Bestimmten, suspekt - Malen bedeutete nun noch intensivere Arbeit bis an die Grenze des Erschöpftseins mit allen den Qualen und Erniedrigungen aus dem Gefühl, das Zu-Sagende letztlich nicht sagen zu können, und auch mit den seltenen Höhen und Euphorien, die Geglücktes begleiten.
Gleichzeitig begann der Maler, seine Ideen und Gedanken in Form von Aphorismen und Kurzgeschichten niederzulegen. Diese Fragment gebliebene literarische Arbeit trat nicht konfliktlos neben die bildkünstlerische: „Zu Zeiten, wo ich nicht male, hat der Denker in mir die Oberhand; der Künstler sitzt dann in der Ecke und lauert. Die beiden verstehen sich übrigens überhaupt nicht." In verschiedenen Abhandlungen, mit denen er in Redaktionen nur selten Glück hatte, formulierte Völkner seine Vorstellungen von der Malerei. Künstlertheorien wurden ihm zunehmend wichtiger. Die Wahl der Stilmittel folgte einem Programm, dessen Konturen immer schärfer wurden. Es scheint, als strebte er eine Synthese der bedeutungsschweren Innerlichkeit altdeutscher Malerei mit Kokoschkas sinnlicher Erregtheit und dem Hintergründigen Beckmanns an - transponiert in die scheinbar alltägliche Szenerie des Heute. Die immer häufiger auftauchenden gesichtslosen Männer mit den hängenden Krawatten, eingeschnürt in ein Jackett in das willig angenommene Bett des Prokrustes, sind eine Zeitlang die Vokabel für eine impotente Seelenlosigkeit, die redet, richtet, (ver)urteilt oder schlicht im Wege steht. Sie sind Täter und Opfer in einem, richten Jesus Christus das Kreuz an einer Straßenecke auf, verhöhnen die barmherzige Geste der Veronika, bleiben unberührt von Davids Musik, obwohl doch dieser schon die Trommel schlägt statt der lieblichen Harfe. Diese Arbeiten behandeln das Thema einer zur Existenzform gewordenen Gleichgültigkeit. Völkners Kritik ist auf Verhaltensweisen des einzelnen gerichtet und auf ihre Sanktionierung, auf die Abstumpfung durch nivellierende Informationsfülle der Alltagsbilder und den Verlust an Kultur des Umgangs miteinander. Auch wollte er einen gefährlichen Mangel an Nachdenklichkeit und Perspektiven formendem Geist konstatieren und fand aufklärerische Bilder voller bisweilen surreal anmutender Gegensätzlichkeiten. Er lässt die Prinzipien hart aufeinanderstoßen; nicht Schönheit soll evoziert werden, sondern Betroffenheit und damit Katharsis. Die Erkenntnis, dass auch seine Bilder „nur" Bilder in einem bestimmten Gefüge des Gebrauchs sind, schuf neue Selbstzweifel. Schon Franz Fühmann hatte mit sanftem Understatement des jungen Malers Hang zur Überschätzung solcher kathartischen Möglichkeit gebremst: „ Sie scheinen meine Arbeiten auch insofern misszuverstehen, dass Sie darin Forderungen sehen, denen man in der Praxis nachkommen müsse - nichts liegt mir ferner." (Brief des Schriftstellers an J. Völkner vom 29. 5. 81)
Malerei als Beitrag zur Setzung ethischer Normen, der hohe Impetus der Aufklärung: Es sollte nicht übersehen werden, dass Joachim Völkner sich damit auch in einen bewussten Widerspruch zu einem großen Teil seiner Generation begab, der seinen Chiliasmus nicht teilte und dessen am Beginn der achtziger Jahre auflodernder neuer Expressionismus in seiner radikalen Subjektivität gänzlich anderer Natur war. Andererseits sah er die Worte der Kollwitz: „Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind...", nur halb zitiert, zu „Asche im Mund" zerfallen und oftmals zur Rechtfertigung opportunistischen Mittelmaßes missbraucht. In den Tagebüchern der Kollwitz fand er immer wieder Bestätigung seines Weges. Sie war-das Vorbild seiner Zeichenkunst und gewiss auch seiner Selbstporträts. Diese ausnahmslos kleinformatigen Bildnisse zeigen die äußere Anspannung der Person zwischen Selbstbewusstsein, Schmerz und mönchischer Zucht: Dieser will nicht teilnehmen am Tanz um das goldene Kalb. Es gibt eine unfertige Kreuzigungsszene, worauf Christus selbstbildnishafte Züge trägt. Der Hintergrund des Ecce Homo in den Selbstporträts ist unübersehbar. Vielleicht sind auch sie schon in einer Todesahnung entstanden.
In den Selbstbildnissen der Jahre 1983 und 1984 kündigt sich zudem ein Stilwandel an. Die eschatologischen Fragen, die ihn bewegten, hatten zu einer Auseinandersetzung mit dem latenten Pessimismus geführt, den er in und um sich spürte. Es ging um dessen Überwindung, und Völkner fürchtete darüber hinaus, von den falschen Leuten vereinnahmt zu werden und seine Kunst als Vorwand untätigen Missmuts verbraucht zu sehen. Darum wollte er deutlicher werden, rücksichtsloser in der Form und ging in seinen späten Bildern den Weg der Verknappung. Die Metaphern werden bündiger, der malerische Aufbau von Figur und Raum zurückgenommen zugunsten einer Umrissbetontheit mit der Tendenz zu kräftiger, bedeutungssteigernder Farbigkeit. Trotz aller Überhöhung war den Bildern bisher ein Rest von Genrehaftigkeit geblieben, den der Maler nun im Geiste Beckmanns tilgen wollte. Sicher hat die diskussionsreiche Freundschaft mit dem jüngeren Maler Trakia Wendisch diesen Ausdruckswandel mit befördert. Völkner reduzierte das Arsenal seiner Figuren, befreite sie von Attributen, unterzog sie nochmals einer expressiven Steigerung. Spitzwinklig stoßen Körper gegen Körper und die meist engen Räume.
In dem Gemälde „Vorhof" findet Völkner dann den Ausgleich zwischen der Erregtheit und dem Gestaltbaren. Diese höchst vielschichtige Adaption des Themas der verlorenen Unschuld wird seine letzte und zugleich wichtigste abgeschlossenen Arbeit; kein die Nachwelt bedrängendes Vermächtnis, aber ein sehr eigenständiger Beitrag zu einem in Bildern philosophierenden Realismus der Aufforderung zur Verbesserung der Welt.

NACHSATZ. Ich habe an dem Abend, als ich die Nachricht von seinem Tode erhielt, wieder in Kafkas Tagebüchern gelesen. Es war wohl Joachim Völkners wichtigstes Buch der letzten Zeit. Dort steht unter dem Stichwort „Standfestigkeit" eine zentrale persönliche Wahrheit Kafkas, von der ich glaube, so oder so ähnlich könnte auch Joachim Völkners innerster Arbeitsantrieb beschaffen gewesen sein. Kafka schreibt: „Ich will mich nicht auf bestimmte Weise entwickeln, ich will auf einen anderen Platz, das ist in Wahrheit jenes 'Nach-einem-anderen-Stern-Wollen'; es würde mir genügen, knapp neben mir zu stehen, es würde mir genügen, den Platz, auf dem ich stehe, als einen anderen erfassen zu können." Vielleicht ist hier die gleichsam metaphysische Seite von Völkners tief in sozialer Verantwortung wurzelndem Realismus beschrieben.

Trak Wendisch
Katalog "Joachim Völkner", 1987

Langsam schwebt ein Flugzeug über mein Haus. Abendleuchtender Himmel. Wahrscheinlich kommt es aus New York, wo gerade im Dunkel der Nacht, Graffity gespritzt wird. Subway, Wild Style. Im Fernseher läuft das Chaos vom Tage, im Radio Tina Turner again, Might be a Queen. Dazwischen arbeite ich, so gut ich kann.

Plötzlich die Klingel - ein Mensch, den ich nicht kenne, steht vor der Tür, nicht zu sagen, ob aus dem Mittelalter oder aus den 20er Jahren. Brubbelt irgendwas von Problematik, eher murrend als erklärend, weht mit seinem Regenmantel Einsamkeit in den Raum und Größe. Der Mann ist untersetzt und unter Druck wie ein überhitzter Dampfkessel, ich muss zuhören bei soviel Kraft.

Erloschene Augen, die riesig sind im schmalen Gesicht. Die Nasenlöcher übergroß, rundum Schläuche, verkrampft die gelbe Hand und nach unendlichem Atem ein unverständliches Murmeln. Meine erste Begegnung mit dem Tod ohne Hast.

Dazwischen eine kurze Zeit mit einem Freund, der wirklich ein Kosmos war, unabsehbar, tiefdunkel aber klar. Unerbittlich mit sich und so mit allen, außer den Kindern und Schwachen. Einmal nur, dass mich jemandes Moral im Alltag überzeugt hat. Vielleicht war die Zeit zu kurz, aber ich habe in unserem Streiten keinen Widerspruch gefunden, der unlösbar schien.

Er beherrschte den Zaubertrick, die Zeit aufzuheben und die Gedanken und das Fühlen längst vergangener Geister wieder zum Leben zu erwecken im Pfeifenrauch. Konnte mitfühlen, leiden und hassen mit den Menschen der Geschichte, ging im Alltag fast kaputt an der Dummheit der Menschen, die nicht lernen wollten, und die er retten musste.

Das alles hineinpressen in die Bilder - keine Zeit, das hatte er im Gefühl, also mit Macht. Unzählige Bleistifte zerbrochen, Papier durchbohrt, Bilder zerstört, Zeichnungen verbrannt. Kein Ohr abgeschnitten, aber die Seele immer im Stacheldraht, mit dem Kopf gegen die coolen Mauern derer, die verschanzt hinter ihrer genialen Sensibilität, an geborgter Naivität herumretuschieren. Angerannt gegen die, die Ölfarbe für Blut verkaufen. Hat sich zerfetzt in Spießrutenlauf durch die Bürokratie, entsetzt über die aggressive Gleichgültigkeit der Alltäglichen.

Dann wieder unendliche Begeisterung für die Blume am Wegstein, die russische Seele, die Musik, Malerei, Literatur und bereit, voller Pathos für den Trotzdemglauben an die Menschen zu streiten. Da stehe ich in Paris und denke an ihn, der es nie bis Colmar schaffte, zu Grünewald, der nie hierher kam, zum späten van Gogh, welcher uns immer der Größte war, das nicht Erreichbare und der das auch hier wieder ist. Leben, nicht Kunst. Wie soll einer schon beweisen, dass er bald sterben muss, da wird das Unding wieder klar, wer hat das Recht zu entscheiden über Leben, über Bilder, über Glück.

Was mir bleibt außer der Erinnerung, seinem Radio, seiner Luftbüchse und ab und zu aber vor allem seinen Bildern, ist die Klarheit über die Zeit, die ich habe und die er nicht hatte, und die Dinge, die da sind, weil man sie gemacht hat oder nicht, weil man sie verschob. Jede Stunde ist wichtig.

Christoph Tannert
Katalog "Joachim Völkner", September 1987 (Text leicht gekürzt)

Ein Gefühl der Nähe schien nur erahnbar... Unsere wenigen Begegnungen zerstrudelten im Wortschwall kontrovers geführter Gespräche. Ich besuchte ihn in seiner Wohnung in der Bötzowstraße. Den Small talk auf Ausstellungseröffnungen, weinselig geführt mit dem Rücken zum Bild, haßte er, ebenso das zwanghafte „Wortgeklimper" jener Kritiker, die ständig ihre Nichtbetroffenheit kaschieren müssen, auch die Verlautbarungen mächtigen Missstands, in die Auditorien gehetzt, um Schluss zu machen mit unserem Fragen. Joachim Völkner glaubte an die Oberzeugungskraft des besseren Arguments, selbst dann noch als bereits das Scheitern eines Projektes diskutiert wurde.

Als ich schon in Abreaktionsspiele vertieft war, sah ich ihn immer noch auf seinem Außenposten.

Er wusste, daß ich mich wunderte über seinen Aktivismus, und er rieb sich an meinen trockenen Kalkulationen und den Hinweisen auf das momentan Machbare. Wir waren unterschiedlicher Meinung in Bezug auf die Lebbarkeit von Alternativen. Einigkeit bestand darüber, dass es nötig sei, Anstöße für kreative Gemeinschaftlichkeit zu geben. Schon Anfang der achtziger Jahre gehörte er zu den eifrigsten Verfechtern einer selbstverwalteten Galerie Junger Künstler in Berlin. Zielgerichtet ging er in die Ausschüsse. Er ließ sich nicht beirren in der Hoffnung, dass auch bürokratische Einheiten reformierbar wären. So verbitterte es ihn, daß die Idee einer „unabhängigen Kunstzeitschrift" fernab seines Ideals der Verbindung von Angst und Sicherheit ihre Verwirklichung fand, finden musste.

In dem Maße wie ihm die Brüche in der Realität zu schaffen machten, wurden seine Bilder spannungsvoller. Selbstdarstellungen wandelten sich zu Selbstverteidigungen. Je mehr Völkner sich durch persönlichen Misserfolg in Auseinandersetzungen enttäuscht sah, die außerhalb seiner Bilder stattfanden, umso erregter stritt er - in öffentlicher Rede, in Statements, in Briefen. Er tat dies nie von der hohen Warte des aus dem Atelier heraus wegweisenden Künstlers aus. Das Verstricktsein ins Getümmel des Tages war ihm aber auch oft lästig, und er wünschte sich insgeheim wohl, daß sein Einsatz für andere ihn doch auch einmal als ersten der anderen beträfe.

Meine Begeisterung für das gelebte Aufbrechen von selbstzufriedenen Seinsweisen teilte er. Den polternden Flüchen und kreischenden Fanfarenklängen, die sächsischer Ungehorsam der akademischen Zwangsgemeinschaft der Ignoranz um die Ohren knallte, stand Völkner skeptisch gegenüber, weil ihm nichts an Eskalationen, alles am Offenhalten von Möglichkeiten fruchtbaren Streitgesprächs lag. Außerdem standen sein selbstquälerisches Ringen um Form und die z. T. erzählerisch angestrengten Botschaftsübermittlungen (für die meisten Neoexpressionisten ein Gestaltungstabu!) der hektischen Umstülpung der „Bildtiefen zu Knallflächen" (H. Szeemann) entgegen. Für die inszinierte Schrecksekunde hat sich Völkner nie erwärmen können. Ich glaube eher, daß er mit seiner Darstellungsmethode versuchte, einen Warnschmerz im Gehirn des Betrachters registrieren zu lassen.

Als ich ihn das letzte Mal sah, zitierte er ausführlich Max Beckmann, insbesondere jenen Aufsatz, der die „Fieberthermometerfunktion" von Kunst betont, (vgl. Max Beckmann, Der Künstler im Staat, 1927)

Joachim Völkner
Tagebuch 1982

Joachim Völkners Tagebuch wurde zwischen Januar und Oktober 1982 zu einer dichten Selbstanalyse. In den früheren Jahren waren seine Auf Zeichnungen eher privater Natur. Die Eintragungen, aus denen hier zitiert ist, lassen vermuten, daß er sie als eine literarische Form verstanden und mit dem Blick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben hat. Unsere Textauswahl umfaßt etwa drei Viertel des gesamten Manuskripts und berücksichtigt das Wesentliche. Die Texte wurden in ihrer sprachlichen Eigenart belassen, es wurden lediglich geringfügige orthographische Korrekturen vorgenommen.

11.1.1982

Das totale Ich meiner Bilder ist noch nicht geboren. In mir deutschem Steinhirn ist eine hauchdünne Ader Fremdes, die noch nicht genug im Spiel ist. Der Kuckuck oder meine Urgroßväter wissen, wo das herkommt, slawisch, jüdisch, etwas romanisch? Oder oder oder, egal, jedenfalls sprudelt da etwas warmes Weiches klitzedünn durch den schwarzen Granit meines Kopfes und ruft nach starken Farben und Formen und Strukturen, nach eigener Form, nach allem, das meinen bisherigen Bildern bisher strengstens untersagt wurde. Nichts kommt flüssig, alles sehr quälend. Es ist dieser dekorative Schweinehund, den ich seit je in mir weiß und bekämpfe, dieser Lumpenkerl allein, ohne mich, ohne meinen Willen, würde wohl malen wie hun-dert-wässriger Klee. Aber dieser Spinner in mir, dieser naive Spieler muß unbedingt ins Spiel, sonst bleibt alles trockener intellektueller Staub. Dieses geistige Gepuder, diese Gedanken tragen noch andere in ihren Schädeln spazieren, es muß daher ganz und total mit meinen Mitteln gesagt werden, nur so hat es ein Recht und kommt in Betracht. Gute Nacht

16.1.1982

Immer wieder anstinkend lustig. Der bedachtsam konstruierte intellektuelle Habitus, der Möchtegernboheme und einiger, die tatsächlich Profis sind. Was tun die da vor ihren Spiegeln? Drapieren an sich herum, basteln sich ein Außen, weil sie kein gemäßes Innen haben. Witzfiguren, die ernsthaft nachdenken, wie sie ihre Haare kämmen, ihre Barte bürsten, und die fernab von den guten Spiegeln ständig zu tun haben, ihr „Styling" zu kontrollieren und bei Abweichungen sacht zu korrigieren. Ständiges Kulissenschieben, daß muß ein anstrengendes Theater sein. Das Dumme ist, daß sie klüger sein sollten als die übrige Scheinwelt und deren hohle Regeln.

17.1.1982

Von früh bis spät Streichquartette, erstmals die von Bartok, dazu im Vergleich Schostako-witsch, danach Beethoven. Bartok scheint mir abstrakter, nicht so bildhaft, aber doch gewaltig. Muß alles noch öfter hören. Die Metaphorik des Karos oder ernsthafte Blödheiten über das Doofe der Dussligkeit. Das Dumme jeder Dämlichkeit ist das Beschränkte, das Begrenzte, das Nichtwissen eines Weiteren und das Maßgebende des Vorhandenen, die Dimension des kleinen Karos. Alle Denkformen, die anders gemustert sind als diese linienstrenge Kleinkariertheit, bleiben unbegreiflich, unermeßlich und ungültig für das eigene Treiben. Die Hohlräume dieser kleinen Karos sind schnell angefüllt, der winzigste Gedanke, das schmälste Gefühl, lassen die Wandungen umgehend bersten, so daß ein Eindruck eigener Fülle und Wichtigkeit ständig hervorzurufen ist. Ein klein bissei Wissen um die Möglichkeit der Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit grosszügiger Karoinnenmaße wäre solcher steten Abrufbereitschaft Selbstzufriedenheit abträglich, also sind derartige Forderungen als störend und überkandidelt vom Tisch zu wischen. Diese Klugscheißer sind doch alle Idioten, die sollen uns in Ruhe lassen ...

18.1.1982

Der Werdegang dieses J. V. ist der eines Spätzünders. Früher gezündet hätte dieser Glühfader, in ihm sicher, hätte die Umwelt, in der er Kind war und Jugendlicher, ihm zu rechten Zeiten mehr davon angeboten, was ihm heute mit Anfang 30 Hauptsache ist. So aber mußte alles später erfahren werden. Auf den langen, doch guten Wegen der Selbsterkenntnis und des Eigenantriebes. Wie sehr ist doch ein Kind aufnahmebereit, wie groß sind die Augen und Ohren, die noch alles empfangen. Hier muß dem Kind alles angeboten werden, daß es damit später tun kann, was es will. Die wenigen Male, wo aus dem alten Radio der Familie V. klassische Musik tönte, waren eben zu wenig, als daß dem lOjähri-gen J. diese Musik früher vertraut werden konnte als mit Mitte 20. Stattdessen hat er aus diesen Tagen noch immer nur Schlager und Vaters Sportnachrichten im Ohr. Mutter hatte doch einen kleinen Sinn für gute Musik und Bücher, aber als sie endlich Zeit dafür gehabt hätte, starb sie. Das klitzekleine Fundamentchen des halbstarken J. ist nur ihr zu verdanken. Oder Bilder. Wie aufmerksam beäugte dieser 10 jährige die paar goldgerahmten schlechten Stillebendrucke an der Wand, hätte dort auch nur ein Rembrandtbildchen gehangen, der junge J. V. hätte es früher gewußt. Ein Kirchenkalender des Jahres 62 hat sich ihm tief eingeprägt, darauf war ein Van-Gogh-Blumenstrauß. Einige Jahre später geriet diesem Jungen in sein Sammelsurium von Lackbildermünzen, Schnapsflaschenetiketten, neben allerlei anderen Reproduktionen, wiederum ein van Gogh in die Finger: Er guckte es sich öfter an als alles andere, den Grund wußte er nicht. Immer häufiger begann er zwischen seinen Spielen zu zeichnen, meist wußte er aber nicht, was. Das machte ihn stets äußerst wütend. Einmal zertrümmerte er dabei einen Tuschkasten, Bleistifte rammte er öfters in die Tischplatte, die bösen weißen Zeichenpapiere riß er in tausend Stücke. Als er zur Jugendweihe einen Kasten mit Künstlerfarben und 3 Pinseln bekam, fing er an, am Boden auf allerlei Stücken Pappe herumzuschmieren, aber auch hier: Was? So malte er bunte Postkarten ab, ägyptische Pyramiden, irgendwelche Landschaften, am liebsten Gewitter und stürmische Meere mit kleinen kämpfenden Booten. Gekämpft und gemordet wurde bei ihm stets viel, es gab immer Gut und Böse. Endlich malte er van Gogh ab, auch Spitzweg, jemand wünsche es sich zu Weihnachten. Hätte sich doch da einer gefunden, der sagt: male dein Spiegelbild, deine Hände, deine Füsse, male deine Welt. Wenn das geschehen wäre, hätte dieser J. V. zehn Jahre früher sich selbst gefunden und seine Bilder. Und hätte, hätte seine Tante 4 Räder, wärs ne Straßenbahn.

19.1.1982

Heute viel Franz Marc, vorgestern war es August Macke. Es ist furchtbar, in unserem Alter zu krepieren Angefangen Kreuzabnahme. Das wird mich fordern, wie noch nie. Angst und Zuversicht.

20.1.1982

Marc zu Ende. Seine Aufzeichnungen haben starke Stellen, wie er das Wort „Prädikat" setzt, ist mir noch nicht eingefallen, das Prädikat des Subjekts, was wird ausgesagt. Nicht nur „der Mensch", sondern „der Mensch fühlt". Kunst braucht dieses Prädikat. Lied im Radio: Wohin soll die Nachtigall, wohin soll ich. Da fehlt was, sagt mir mein Gefühl. Ich mal meine Sehnsucht, ich bin unterwegs. Das ist es noch nicht, das Ziel. Abends, nach vielen Jahren, erstmals wieder Straßenmusikant gesehen, am Bahnhof, ein alter Mann spielt sehr schön Mundharmonika, neben sich eine Blechbüchse, wo die Groschen schön klimpern. Ja, wundert sich alles, gibts denn das? Nein! Erwartungsgemäß, nach Minuten, wälzt sich der dicke grüne Polizist heran, verlangt die Ausweispapiere und weist, mit ewiger Geste, den Mann zu verschwinden. Die Ordnung und die Sicherheit sind so wieder hergestellt, und so ward wieder Ruhe im Land. Schließlich: Musik auf der Straße ist nicht in Ordnung, Ordnung ist Grabesruhe, das hektische Rascheln leiser Sohlen, aber die Wege im rechten Winkel!

21.1.1982

4 Stunden Kreuzabnahme. Mann! Mann! Die große russische Musik, sie hat etwas, das einmalig ist, das nur dort, nirgendwoanders ist: eine herrliche Trauer, ein großes erdverbundenes Pathos. Dieses Rußland muß man lieben, die tiefe Seele seiner Menschheit und seines weiten endlosen Landes sind etwas so Einzigartiges und seine beste Musik hat es. Wo viel Seele ist, ist viel Leid, und dieses tiefe menschliche Leiden ist fast in jedem Ton, auch im Scherzo, eine großartige Wehmut, immer ist gesunde Erde im Spiel. Vielleicht ist Schostakowitsch der letzte dieser großen Russen. Denn Europa mit seiner westlichen Konsumhektik und seinem östlichen lähmenden Bürokratismus wirkt sehr ein. Aber dieses Land ist stark und riesig, kann vielleicht gegenwirken. Ich bin nicht der erste, der von Rußland Gesundung erwartet, Europa ist krank, Amerika weint, (Rußland) hat seine Hände an der Erde, dort ist seine Heimat, sein Kraftquell, der Deutsche hat seine zitternden Hände am Kopf, da tut es ihm mehr weh als an den Sohlen. Seine Tragik ist, daß er die Schwerkraft der Erde, die an seinen Sohlen zieht, nicht überwinden kann, seine Füsse kleben dort, sind fest verwurzelt, aber sein Kopf, sein Geist ist in den Wolken zu Hause, bewegt sich im Kosmos, also ist er zerrissen. Sein Leib ist zwischen Himmel und Erde, und dieser Zustand prägt ihn, von oben, von unten, zerrt es an ihm, und sein Lebensraum ist dieses Spannungsfeld, eine Streckbank. Dort findet er weder Ruhe noch Glück, sein Riss, seine Geteiltheit, seine ewige Wunde, sein wunder Punkt gibt ihm ständig zu denken. Er muß das grübeln, über Himmel und Hölle, Idee und Wirklichkeit, Ja und Nein, über allen Gegensatz, alle Kausalität... Die Kunst, die da in diesem elektrischen Gehäus entsteht, hat dann eben das, und der Mensch, der sie macht, hat zu schaffen damit, daß er das weiß. In seinen Schwächen daher ist er sich selbst der größte Feind, also kämpft er zuerst mit sich, dann gegen das, was ihn, außer sich, bedrängt, und hier, bei Beschränkung, kann er der erbittertste Staatsfeind sein. Denn er hat, was ihn zum Riesen machen kann, er hat eine Idee und er steht auf dem Boden, er ist ein Mensch mit Prinzip. Hat er dazu den rechten Charakter, ist er nicht zu besiegen. Als Mythos heißt er Siegfried, eine Schale aus Drachenblut, das Eichenblatt lag auf dem Herzen, dort ist er zu treffen, als Musiker heißt er Beethoven. Dieses Gefühl, das sich da ausdrücken will, ist allen gemein, die dieser Gesinnung sind. Aber die Kraft ist nicht überall, so wird die Musik weicher. Mahler, Brückner seh ich da an einem Abgrund, sie stehen da kurz vor dem Sentimentalen, dem todbringenden Fall der deutschen Kunst. Die große erdige Trauer der Russen geht hier nicht, ebensowenig wie die luftige Freude der Franzosen, aber was geht, ist: der große Sinn lebendiger Dramatik. Abends Trakl und Schuberts letztes Streichquartett, äußerst stark.

22. 1.1982

Bei der Arbeit: wenn der Tag bald rum ist, sollte man mit Malen aufhören, solange man noch weiter weiß, die restliche Idee aufheben für den nächsten Tag. Nichts ist qualvoller, als ohne Idee einschlafen und aufwachen und weitermachen müssen und nicht wissen wie. 26.1.1982 Das Nebeneinander der anders gearteten europäischen Seelen fesselt mich mehr und mehr, vor allem das Warum. Warum bin ich als Deutscher so ein sonderbarer Vogel und so anders als die anderen Käuze um mich herum Was ist anders. Woher kommt was? Es konnte nur ein Grieche sein, der aus einer Handvoll Federn und Bienenwachs Flügel macht und davonfliegt. Der Deutsche, als flugunfähiger Ikarus, heißt Otto, er setzt sich auf seinen zerschundenen Hintern und denkt, dann erfindet er einen Motor und ein Flugzeug und eine Philosophie des Fliegens. Die einen singen, spielen, tanzen sich in Ekstase, der Deutsche denkt sich dahin.

27.1.1982

Gewisse Bilder aus Filmen gehn mir nicht aus den Augen, z. B. die wackligen Dokumentaraufnahmen von Massenerschießungen polnischer Juden, die naive grinsende Frechheit der deutschen Soldaten, die aussehen wie Bekannte von der Straße, aber das Erschütterndste, dieses sonderbare Verhalten der Juden vor dem Todesschuß. Keiner läuft weg, verängstigt brav stehen sie in einer langen Reihe und warten, warten bis sie dran sind, dann treten sie folgsam vor ihren Mörder, bücken sich und schauen ihn an, ob sie auch alles recht machen. Ist das noch Hoffnung? Denkbar eine Geschichte, der Monolog eines Juden aus dieser Reihe, seine Gedanken in der Zeit des Wartens, alles, die Überraschung, die Angst, die Wut, wieder Angst, dann Glaube und immer Hoffnung nach dem Zweifel. Das Ende:... Mit folgsamen Schritten trat er nach vorn, jetzt erst konnte er in die Grube sehen, da lagen sie alle, doch tot. Aber ich nicht, dachte er, als dieser Mensch ihn grob stieß und etwas sagte, daß sicher heißen soll „Runter"! Ja, sie alle mußten das auch tun, also tat er es recht schnell und sah dabei diesen Menschen an, um zu fragen, ob es so recht getan sei. Denn wer sich so gehorsam und schön hinhockte, der wird gewiß nicht totgemacht werden, der wird weiterleben dürfen, ja leben, denn es muß doch weiter, das alles. In seinem Kopf formte sich sofort wieder das Bild seines Alltags, ehe diese Menschen kamen, er war bereit, diese sonderbare Störung zu vergessen, er wollte überlegen, ob er sich nicht wieder erheben solle, denn es müsse doch nun klar sein, daß er, Jacek, nicht tot wird, da schlug es krachend an seinen Hinterkopf und eine sehr kleine harte Eisenkugel brannte sich dorthin, wo er gerade gehofft hatte, und löschte alles aus, was soeben, nach dem Knall, eine große, große Enttäuschung werden

28.1.1982

Wer 6 Stunden einen Gekreuzigten malt, der muß wohl zur siebenten Stunde, auf der Straße dann, etwas im Blick haben, das die Leute gucken läßt: ein Wahnsinniger? Manchmal gefährliche Müdigkeit, sollen die doch ihr Scheißspiel zu Ende spielen.

8.2.1982

Brief an König Salomon. Anstatt Ihnen im Briefkasten zu liegen, könnte ich ebenso an Ihrer hohen Tür stehen. Sie besuchen, aber es ist eine dumme Sache, daß man Auge in Auge meist nicht die rechten Worte findet. Mir gehts insbesondere so, zudem weiß ich Ihre Hausnummer nicht. Was will ich: nicht Ihr Urteil, nur einen Rat. Für das „Gewisse" der Kunst, das unerklärliche Soll des Bildermachens, das einen vorwärtsjagt, blind in die Richtung eines gefühlten ewigen Lichts, für eine Ahnung fand ich spät erst das rechte Wort: Mythos. Ich will nun nichts wiederholen, das wir beide schon wissen, nur: ist es gut, daß wir „es" wissen? Sollte „es" nicht erfühlt werden, anstatt erwußt? Sollte „es" nicht von selbst „kommen" anstatt gewollt zu werden? Ich weiß das wirklich nicht. Ich befürchte nur, daß ein Zuvielwissen um „es", um die Dinge des Solls, den Künstler disqualifiziert, er rationalisiert seine Emotion zum Zwecke eines Zwecks. Einem Schriftsteller könnte es geschehen, daß er von da an nur noch Essays schreiben kann, Analyse statt Synthese, dachte ich, ehe ich Fühmanns Marsyas las, seinen großen Atem hörte. Da sah ich: es geht doch, man darf wissen. Die neue Frage: geht es vor allem dann? Halbwegs nicke ich mir da zu, zögernd, dann: darf der Künstler wirklich jede Sekunde seines Schaffens bei Bewußtsein sein? Ich denke, dem Wort kann die ständige Anwesenheit der Ratio und ihrer Kontrolle nicht schaden, das Wort, die Sprache ist ja geformter Geist. Aber wie ist das mit dem Bild? Ist das Kalkül, die Allmacht der Ratio hier nicht Gift? Angenommen: ich weiß also als Maler um die Sache des Mythos, jedes Bild, jedes Bildnis muß es in seinem Wesen haben, das Ewige, die Urseele des Menschen, den Urtyp.des Charakters des Abgebildeten, ich weiß, wie das sein muß, und ich weiß, wie man das macht, und, immer noch angenommen, kraft meines Ichs kann ich das, geht das? Oder muß ich das Gleiche schaffen als Unwissender, als Naiver, als einer, der ohne Bewußtsein, bewußtlos im Zustand des Rausches nicht genau weiß, was er malt? Zur wahren Kunst führt nur ein Weg, der ist verschlüsselt, liegt im Dunkeln, es gibt keinen anderen. Welcher Weg ist der richtige? Wahnsinnige Fragen, doch diese ist zu groß. Die Themen. Ich erlebe, daß viele meiner Kollegen einem weiteren Gift erliegen, dem Haß. Aller Unmut, wenn er nicht bedachtsam sublimiert wird, führt zu wenig durchdachten Re-Aktionen: Kunst wird billiger Racheakt anstatt Waffe. Fehlerhafte Gesellschaften waren schon immer ein Prüfstein der Künstler, alle Beschränkungen ein Nährboden, das Stärkste ist gefordert. Nur das Gute. Wahre Größe wird da bestehen. Nichts Kleines, das sich in Metaphern und Parabeln verheddert. Wie immer ist das rechte Maß verlangt. Alles übrige ist dem Verdruß, der Frustration nicht gewachsen, es hat kein Gegenmittel, es unterliegt. Das ist schlimm, denn es sind Menschen darunter, die sind guten Willens, es fehlt ihnen nur an Kraft, Kraft des Herzens und Kraft des Geistes. Was heute zu großer Kunst an Substanz gebraucht wird, ist eigentlich gigantisch, wer hat das? Aber es ist so, und der muß wissen, wer sich auf diesen Kampf einläßt. Doch das tönt zu emphatisch, Kunst ist nicht Freistilringen. Also zurück zur Sache des Mythos. Was ich dafür halte, kann ich nicht sagen, es ist eben Ahnung, etwas wie der Urgehalt eines Stoffes, sein STRASSENSZENE, 1981 öl auf Hartfaser, 65x88,5 cm, bez. verso: Mai 81 ewiges Licht, sein ewiger Schatten. Urseele, Archetypus, alles nur Worte, die Sache ist unbeschreiblich. Wer noch leise Funkverbindung hat zum Urigen, zum großen Alten, zum alten Großen, zum Gewordenen und Werden, wer sich also dem Urstoff verbunden fühlt, der weiß das, und nur der weiß, was Leben ist. Es sind die Zusammenhänge, das Gespür des Roten Fadens. Aber wer so weit gekommen ist, dem ist die große Antwort ferner denn je, es stellen sich neue Fragen. Eine: sind die Auswüchse unserer Phantasie, die bösen Gelüste in uns Reste eines Raubtieres, oder sind sie Vorstufe eines solchen? Wir wollen alles wissen, doch wir begreifen nichts, am wenigsten uns selbst. Das Mysterium der inneren Ratlosigkeit als Unruhe der pochenden Weltenuhr, es geht weiter. Wie lange hält die Sprache? Wann kommt die große Zeit der Bilder, Fragezeichen des Nachts an die Hauserwände?

9.2.1982

Ich glaube, Schostakowitsch bringt neben der Tragik bewußt immer auch die andere Seite, die Komik, ins Spiel. Dieser Moment verändert dann das Hauptthema, zeigt seine Kehrseite, oder besser: zeigt eine andere Seite, ein anderes Licht, denn seine Komik ist immer doch tragisch. Bildlich ist es dann meist etwas wie Erinnerung, Jugendtraum, Illusion, Enttäuschung. Der absurde Witz des Lebens hat dann zwischen aller Schicksalsschwere seinen Raum.

10.2.1982

Das Dumme ist, daß der Künstler doch einen Dank erwartet, und daß der Undank, der stattdessen als Haß sogar ihm entgegenschlägt, ihn tief trifft und traurig macht. Wofür Dank, tönt es da von der Straße? Und der Mann, der das sagt, hat für sich Recht, er weiß es nicht anders ... Ja, es ist dumm zu suchen, wo noch nichts zu finden ist, aber es ist die Dummheit eines Kindes, das Lohn erwartet für die Entdeckung einer Gewitterwolke, einer Träne oder einer entfernten gelben Blume. Was weiß der Erwachsene von der Mühe des Kindes, seinen Kopf zu heben und zu schauen. Und wieder lacht es da hämisch von der Straße.

13. 2.1982

Jeden Tag gibts Minuten, wo ich im Wachen träume, ob ich auch jede Nacht im Schlafen träume, weiß ich nicht so recht, nach dem Erwachen erinnere ich mich selten. Oft ahne ich nur, daß Furchtbares vorgefallen sein muß, ich bin aufs Seltsamste erschüttert und beunruhigt. Die Tage sind dann davon gezeichnet, ich kann dagegen nichts tun. Letzte Nacht wieder bösen Traum, er ist nicht vergessen: Auf meinem Fensterbrett: eine Horde sonderbarer bunter Spatzen, ein oder zwei große schwarze darunter, überfallen ein Taubenpaar, stürzen sich auf eine davon und picken sie an, die andere Taube hüpft entsetzt hin und her, kann nicht helfen, ich seh ihr panisches Gesicht, den aufgerissenen stummschreienden Schnabel, die Überfallene Taube liegt ebenso entsetzt auf dem Rücken, die Füsse in die Luft gekrallt, ihr zuk-kender Körper hat ein großes blutrotes Loch, das Fleisch liegt frei, die bunten Vögel haben sie zur Hälfte ausgeweidet, zu spät kann ich die Mörder verjagen. Brief an Strittmatter. Habe eben Ihren dritten Wundertäter ausgelesen, bin sehr enttäuscht. Ich lese langsam, für 650 Seiten brauche ich 3 Wochen, nun ist es mir schade um die Zeit. Von einem Buch erwarte ich, daß es Kunst ist, ich will Sprache sehen und darin Größe, und ich will etwas dabei neu erfahren. Ich begreife nicht ganz, wie Sie zu dieser schwachen Form kommen. Von den meisten Ihrer Kollegen erwartet man nichts anderes, man läßt sie also links bzw. rechts liegen, aber wenn von einem der Besseren so Banales kommt, so verwunderts. Das Thema ist ja klar, im Grunde noch viel zu harmlos umschrieben, doch schärfer gehts ja nunmal hier und heut nicht, umso stärker, schlagender muß da die Form sein, der Ausdruck, die Sprache. Sie wissen es doch länger als ich, das wichtigste Thema allein trägt kein Werk. Ich wünschte mir vieles lakonischer, nicht diese „Eulenspiegel- Technik", in jedem Satz möglichst zwei Pointen sowie leere, flach karikierte Charaktere. Ihr Büdner ist mir kein Mensch, er ist eine Unperson ohne Seele, ohne Strahlung, kein Fisch, kein Fleisch, eine solche Nullfigur kann doch nicht Träger eines Romans sein, er kann nur „Krücke" sein, um „Frust" abzuladen. Dieser Frust (ein irres Wort) ist für den Künstler sicher gefährlich, der muß ihm aber widerstehen, ihm etwas entge-gehalten: Gestaltung. Es geschieht, daß man diesem ewigen und doch neuen Wust von moralischem Müll nicht gewachsen ist, man wäre überwältigt, von Ärger darüber zerfressen. Als Künstler wäre man dem Gift erlegen und eine Notwehr ginge nur noch mit dem Spiegelprinzip. Aber statt Widerspiegelung muß es der Extrakt sein, der Kern der Dinge. (Ein gegenextremes Erliegen war da die überform, das Zuviel an Intellekt, der Überhang an Ratio, das Kalkül bei der Arbeit. Himmel, es ist ein Seiltanz). Das klingt zwar alles nach Insider-Phrase, doch das ändert nichts an der Wahrheit. Ungestaltet bleibt jede kritische Absicht ohne Belang, sie verpufft. Ich bin Maler, und der Fall ist beim Malen der gleiche. Ihr Buch als Bild seh ich vor mir: kritisches Thema, Büro, Wandzeitungen, darin färb- und seelenlose Figuren, lähmendes Grau, die Komposition, der Bau kraftlos, ungebildet. Aber die Masse steht davor und kichert und nickt, der Beifall der Menge ist verfänglich wie eine Leimrute. Bilder dieser Art habe ich vor Jahren „auch mal" gemalt, sie sind aber inzwischen alle überpinselt (ich habs da leichter als Sie). Kunst darf nicht bloßer Racheakt sein, sondern Waffe, das war nur eine wichtige Erkenntnis. Aber eh ich hier weiter klugscheiße, mach ich lieber Schluß. Sie halten mich doch längst für einen großmäuligen, quatschköpfigen Wichtigtuer. Das ist auch gut so, man muß sich schützen. Zudem bin ich halb so alt wie Sie, und sollte mehr Respekt haben. Aber ich war eben einigermaßen sauer auf Sie, hätten wir uns an einer Bushaltestelle getroffen, würde ich Sie auch dort mit meinen Flüchen überschüttet haben. Fluchen soll ja gesund sein. Ich beneide Sie um den Frühling da draußen.

15.2.1982

Trakls Briefe, was da zwischen seinen knappen kühlen Nachrichten mit ihm geschieht und was in plötzlichen heißen Sätzen aufglimmt und sogleich wieder erlischt, weil es ihm bis über die Augen steht und er es diesen dunklen Augenblick lang nicht im Griff hatte, das ist in leisen Ansätzen nur zu ahnen, von den Wenigen, die ihren Teil wissen, was es heißt, aus Schmerz, Bitterkeit und zweifelnder Hoffnung Verse oder Bilder zu machen.

20.2.1982

Neues Buch, Albert Schweitzer, die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben. Das Rechte zur Zeit! Aber diese elende immerwährende Dämlichkeit, aus einem Fenster tönt es, eine Familienfeier, allmähliches Besoffensein und stundenlang im Chor: Adelheid, Adelheid schenk mir einen Gartenzwerg und dazwischen stets dieselbe Stimme: mit ner Zipfelmütze, ewiges blödes Kichern, dann böses Lachen und am Ende wie immer Gebrüll, Streit. Himmelnee, ich bin kein Menschenfeind, nur diese flache geistlose Lustigkeit „So ein Tag so wunderschön wie heute", dieses heuchelnde Geschunkel von Menschen, die davor und danach wieder Wölfe sind, geht mir auf die Nerven. Ach du lieber Himmel, heute ist Karneval. Im Fernsehen walzen sich papierbemützte dicke Direktoren mit ihren fetten Frauen, es lebe die Fröhlichkeit, im Radio grölts. Aus! Aus! Aus! Stattdessen ein gutes Abendbrot, Beethovens dritte und fünfte,dazu ein Buch mit russischen Ikonen. Wenn, das nicht war.

22.2.1982

Himmelmensch, bin gereizt wie eine Klapperschlange! Was ist los? Gestern, vorgestern wieder 22 Zeichnungen verbrannt, heute 12. Immer wieder schmeiß ich alte Sachen weg oder übermale, das redet mir keiner aus, alter Dreck muß weg, ist immer noch zuviel da, eigendlich alles. Abends 5 Stunden umsonst an „Nachtszene".

9.3.1982

Man steht an der Staffelei, malt, und im Kopf ist es nicht aufzuhalten, weiter an zwei Aufsätzen, einem Brief, Tagebuch, am letzten unfertigen Bild und am nächsten neuen, das noch nicht da ist, dazu die Gedanken in Büchern und Lüften und Tiefen, aber vor und nach allem die Sinne am Bild auf der Staffelei. Sätze, Bilder, Töne, Bilder, Sätze, Fetzen, Rauschen, Zerfetzen. Ich seh in der Kunst eine expressionistische Gotik kommen müssen. Die ideologischen Hysterien dieser Zeit haben diese Form, ein fanatisches Höherstreben, alle Menschlichkeit zerfasernd. Das schreit nach Ausdruck, Notwehr! Nervöse Striche, die angegriffenen Seelen der Gegenwart. Ein apokalyptisches Bildnis wäre zu malen: der Mensch, entwaffnet, wehrlos, vergewaltigt, sein Körper zu Streichholzdünne zerrieben. Ekstatische Hagelstürme, die Tage. Der alle elektrisierende Wettkampf der beiden heutigen Religionen führt auf den beteiligten Seiten zu ähnlichen Zwangsneurosen wie dies in der deutschen Zeit um 1400 geschah. Nur ist alle Naivität krepiert, Schuld ist da. Der liebe Gott ist in ein Stempelkissen gesperrt, der Beelzebub sitzt am Schreibtisch, telefoniert mit verstellter Stimme. Die Engel fahren mit Mopeds durch die Gänge, aktentragend. Und unten, vor den Toren, schlgen die Menschen sich die Parteibücher um die Ohren.

12.3.1982

Lessing, dieser scharfe Hund, prügelt sich doch mit jedem Philister herum, wirft tatsächlich mit Felsbrocken nach Zwergen und schafft denen so himmelhohe Denkmäler, Heine sagt das gut. Aber ich begreif das, diese elende Wut jeden Tag auf diese ewigen Scheißer. Ich halte nichts von Nietzsches Worten „Dem würdigeren Feinde sollt Ihr Euch aufsparen" usw., das hat schon seine gute Bedeutung, aber nicht als Alibi für den scheinheiligen Drückeberger. Mancher verbrauchte sein Leben im Warten auf den „würdigen Feind" und krepierte als Verlierer.

13.3.1982

Nervös, zum Zerreißen gespannt, nicht viel und ich zertrümmere. Hellichter Tag, Griff in die Bücher und im Knien fast nochmal gelesen, Lars Gustaffsons „Tod des Bienenzüchters". Dann langer Blick in die Wolken, schwere graue ziehende Kumulus.

20.3.1982

Herumgeschlagen auf Redaktionen, irrwitzige Gefechte mit hilflosen dressierten Chefredakteuren, wahrhaftigen Michels. Einer von diesen wagt es, aus 2 Seiten Text drei ihm genehme Sätze herauszusuchen und diese als „Aphorismen eines Malers" drucken zu wollen, „dafür mit Reproduktion und später vielleicht Artikel",recht süss der Speck. Doch die „Maus" zieht von dannen, denkt sich: dann also das alles malen.

10.4.1982

Wenig Intensität jetzt in der Arbeit, zentimeterweise voran an angefangenen Bildern. Keine gute Zeit, diese Zeit.

14.4.1982

Zu Ende gelesen, die jiddischen Geschichten. Wie sie techteln und mechteln, die Jidden, ich seh sie immer vor mir, sind mir sonderbar nahe, diese Brüder. Nichts ist trauriger als eine angetrocknete Palette.

17.4. 1982

Immer noch Flaute, die Segel hängen schlaff, ruhelos geht der Kapitän umher, vom Bug zum Heck, vom Heck zum Bug, doch nichts, keine Bewegung, kein Windchen, das Boot steht. Er weiß, er muß warten.

19.4.1982

In Windeseile gelesen, Gertrude Steins Autobiografie. Mist, dieser Klatsch macht sonst Laune, aber dieses dämliche Salongeschwätz einer übergeschnappten Amerikanerin kann man vergessen, aufgeblasen und hohl dieser Zahn.

20.4.1982

Versuch mit Martin Walsers „Schwanenhaus": Niete! kann wohl auch nur noch Essays machen. Es gibt eine Art Weinerlichkeit, vor der muß man auf der Hut sein. Große Lust daher an Arno Schmidt, ein frischer Geist dagegen, funkensprühende Form, trotz ähnlicher Verzweiflung.

25. 4.1982

Ganze Zeit Vincents Briefe, alles von ihm wieder intensiver im Auge.

26.4. 1982

Nichts kommt in der Arbeit, jeder Versuch geht auf rätselhafte Weise daneben, so als könnte man überhaupt nichts.

28.4.1982

Starkes Gefühl, mit den Nerven am Ende zu sein, der Ausbruch lauert. Manchmal kaum noch in der Lage, die Zügel zu halten, ewige Dressur des Zusammenreißens verbraucht letzte Kraft am falschen Ort, das kotzige Schauspiel der Disziplin geht in die Binsen. Mancher wird mich bald für einen Idioten halten, macht nichts.

28.4. 1982

Starkes Gefühl, mit den Nerven am Ende zu sein, der Ausbruch lauert. Manchmal kaum noch in der Lage, die Zügel zu halten, ewige Dressur des Zusammenreißens verbraucht letzte Kraft am falschen Ort, das kotzige Schauspiel der Disziplin geht in die Binsen. Mancher wird mich bald für einen Idioten halten, macht nichts.

29.4. 1982

Himmel, dieses hysterische Gejammer und dieser törichte Glaube an Besonderheit.

30. 4.1982

Früh in tiefer Niedergeschlagenheit auf die Straße, drei Stunden ohne Sinne durch Kälte und Regen. Warum verläuft man sich nicht, verschwindet irgendwo spurlos? Warum kehrt man immer wieder wie ein alter müder Gaul zurück in die alte mühsame Bahn, wo nach einigen Runden doch wieder der Fall kommt. Für die wenigen herrlichen Augenblicke, die kurzen glücklichen Momente des freien Fluges müssen wir wohl immer wieder büssen, auf alle Viere fallen und sterbenwollen. Also zurück, Blick in Vincents Augen, starker Kaffee, das gute alte Frühstück und Weiterlesen in Kleists Briefen, dazu Schostakowitsch Violinenkonzert, den 3. Satz öfters. Nach zwei Stunden weiter.

1.5.1982

Was mich zerreißen könnte ist die Hülle von Eis, die seit gut 10 Jahren mich in ein Innen und Außen trennt und die ich nicht loswerden kann, jede innere Bewegung kann sich nicht befreien, prallt zurück und zerschlägt allmählich, das Außen ist dabei ohne Rührung. Doch diese Hüllen zerspringen irgendwann, die Spannung ist zu groß.

3.5.1982

Dieser Tage zwei kleine Selbst, Strohhalme, heute ein größeres ziemlich und erstaunlich schnell und sehr weit, nicht so schlecht: In Erwartung des Risses.

20.5.1982

Ja, der immerwährende Jubel der Idiotie des Vergessens: England und Argentinien schicken unter patriotischem Gejohle ihre Kriegsschiffe und Düsenbomber ins Spiel um ein paar steinige Klippen am Südpol. Tausende junge Männer müssen daran glauben, daß ihr Leben nichts wert ist, wenn es um Erdöl und Heringe geht. Das ist die Herrscherlogik. Und die Verteidigungsminister inszenieren jeden Tag eine Fernsehkonferenz, wo die Erfolge gemeldet werden und mit gesenkter Stimme eine Zahl der eigenen Toten. Zum Kotzen!

29.5.1982

Nochmal gelesen „Homburg", das wollte Kleist als Huldigung an Preußen. Es war ein Liebesdienst, es mußte endlich vorangehen mit ihm, er wollte es allen „zeigen". Mit der eigenen Form hat man leben gelernt, aber der heimlich aggressive Druck der Umwelt, die dümmliche Erwartungshaltung der Familie, die nach ihren flachen kümmerlichen Normen endlich „Leistung" erwartet, treibt den Andersgearteten in den Wahnsinn, oder in den Tod. Was Kleistens Halt gewaltig unterhöhlt haben wird, das waren die tiefen Erniedrigungen nach den leisen ruheversprechenden Versuchen des Arrangierens mit Staat und Hof. Keist wollte und brauchte diese Ruhe, etwas von sich hat er — ohne sich zu verleugnen — dafür vergeben müssen, im guten Glauben an einen Sinn und daran, daß auch der Hofstaat aus Menschen ist, doch er erhält dafür nicht das Geringste und erreichte noch weniger, eher wurde ihm etwas genommen: Stolz. Es war seine Selbstachtung, die um eben diesen Teil unheilbar litt. Damit ist nicht zu leben, wenn man ein Mensch ist wie er, aller Selbstbetrug geht nicht, die Scham bleibt und tötet.

2.6.1982

Diese ewige marternde Gleichzeitigkeit von vielerlei Denken und Tunwollen. Im Kopf, im ganzen inneren Körper ist da ständig Bewegung, Unruhe, alles ist ein unaufhörliches glühendes Fieber, ein sonderbares Gefühl der Vorbereitung, als würde alles gleich und endlich „richtig" beginnen, die Pläne endlich Tat werden. Ist dann eine Idee tatsächlich verwirklicht, tritt an ihre Stelle umgehend eine neue. Die erwartete Ruhe bleibt aus, der Nachfluß ist wohl endlos. Also bleibt das Fieber und brennt ohne Ende? Bis nur noch Asche ist?

20.6.1982

Im Fernsehen: Allerlei haarsträubende Idiotien im Wechsel von Bild und Ton, sanft dämlich die gebürsteten Kommentare. Der ewigeTrick: Altes unter neuen Namen, also: neue Wilde, später: wilde Neue oder neue Alte oder alte Neue oder so. Das Traurige an diesem Lustspiel ist, daß jedem Wahren schon seineTendenz im Keim hervorgezerrt und umgehend vermarktet und so abgetötet wird. Die „neuen Wildheiten" haben ihren guten Grund, aber Wirkung ist nicht möglich, die Manager haben alles im Griff, vorallem die „Wilden" selbst, die sie gezähmt und abgerichtet in ihrem Rennstall halten.

22.6.1982

Die hautlose Nacktheit des Fleisches, die der Künstler braucht, um das Klimakterium seiner Zeit aufs genauste zu spüren, alles geht ins Fleisch und Blut, der Körper selbst, seine Sensoren haben die präzise Frequenz des Geistes dieser Zeit, sie empfangen seine Schwingungen in aller Totalität und reagieren, reflektieren, spiegeln also wider, werden selbst zum Sender: der Künstler gibt so ein Bild zurück. Dabei ist er in seiner Blöße allem ausgesetzt und alles findet sein Echo in ihm. Denn alles ist in ihm, was auch außer ihm ist. Wie alles Gute also in ihm einen Spiegel hat, so hat auch alles Schlechte dort seine Reflektion. Alle Quellen von Gut und Schlecht sind so selbst erfahren und gewußt und die Gestaltung ihres Bildes kann überzeugen.

18.7.1982

Das Fernsehinterview. Kamera läuft. Frage: Was können wir tun, um das kulturelle Leben unserer Jugend zu bereichern? Antwort: Zuerst sollte man hierzu einmal den Begriff Kultur klären. Kultur ist ja nicht nur die 5. Sinfonie von Beethoven zu Neujahr im Fernsehen oder die geschniegelte Folkloretanzgruppe zum 1. Mai oder der familiäre Ausstellungsbesuch am Sonntagnachmittag, Kultur ist, was sich auf der Straße abspielt, wie sich die Leute dort Guten Tag sagen, das ist Kultur. Und wenn man sich das eben etwas näher ansieht, vorausgesetzt man kann und will sehen, so stellt man wohl fest, daß da einiges nicht in Ordnung ist. Und für diese Unstimmigkeiten nun hat gerade die Jugend eine genaue Antenne, auf die jede Gesellschaft sich verlassen sollte, instinktiv spürt die Jugend, was vor sich geht und protestiert gegebenenfalls, reagiert mit einer ausgeprägten Antihaltung mit einer Art Gedankenkultur, die ... (Frage:) Halt, Stopp, aus, aus, das war nicht meine Frage, ich glaube es hat keinen Sinn ...! (So wörtlich und bildlich mit mir geschehen irgendwann im Mai oder Juni, aus Vergeßlichkeit erst jetzt aufgeschrieben).

17.8.1982

Ginge doch das unentwegt bildermachende Hirn einmal auszuschalten, die Nerven zerreis sen, sonst. Das Tötende aber ist, daß die Kraft nicht da ist, alle Bilder umgehend zu gestalten. Also stockt der Fluß, alles staut sich und übt Druck aus. Denn aus dem Dunkel des Unbewußten fließt es ohne Unterbrechung, das Licht des Bewußtseins, die Idee, hat vieles davon schon ergriffen und läßt es leise Gestalt, Bild werden, wie seh ich es, im Dämmer zwischen ES und ICH. Aber es sind zu viele und ich bin zu oft ein erbärmlicher, armloser Waisenknabe. Doch dieser inneren Bilderflut nicht gewachsen sein heißt: der Kunst, dem Leben, allem nicht gewachsen und überwaÅNltigt sein. Nicht standhalten und der Welt nichts entgegenzusetzen können, das bedeutet: ich habe verloren.

19.8.1982

Verdammt viel Kraft und Zeit gehen schon drauf, um gute Malgründe zu besorgen. Gute Leinwand ist zu teuer, Hartfaser in guter Qualität immer seltener, noch rarer sind brauchbare Holzleisten zum Verspannen, die nicht krumm und verzogen sind: große Bilder brauchen eine solide feste stabile Ebene, aber woher nehmen, wenn nicht mühsam selber basteln? Ich wünsche mir ein großes Vorratslager mit Flächen in allen Größen, dann ginge alles besser. Denn wenn ein Bild ausgekotzt wird, muß sofort eine passende Fläche dasein, zum Auffangen. Die Abende in letzter Zeit schlecht, wertvolle Zeit geht mir da verloren, es kommt nichts Brauchbares zustande, alles in mir ist zu unkonzentriert: keine Arbeit, kein Zeichnen, nicht mal Ruhe zum Lesen, nichts ist da von Nutzen. Da wünscht man sich manchmal doch die Bohemekneipe oder den größeren Kreis guter Freunde, wo man dann hinkann. Diese Isolation ist auf die Dauer schrecklich und kann einen vernichten: zu oft mit sich allein, ist man sich gefährlich. Aber sicher gehört das dazu und der Anspruch von Freundschaft und guten nutzbringenden Gesprächen ist sicher zu hoch, als daß man den inzüchtigen Dunst der Intellektuellen-Cafes atmen will. Und neue „Kontakte" stellen sich schwierig.ein, der Zufall würde beansprucht, aber hier dann die Tragik: jeder ist zu sehr in sich selbst vergraben, die Schleusen, die er mühsam geschlossen hat, damit er nicht ersäuft im Brackwasser, die kann er so schnell nicht öffnen, wenn das Wasser plötzlich besser ist.

20. 8.1982

Erwische mich abends zu oft vor dem Fernsehapparat, aber manchmal lohnt der Blick durch dieses einzige Fensterchen zur „großen Welt". Soeben: Gespräch zwischen Lili Palmer und Elisabeth Bergner. Sehr klug die Palmer, sehr intellektuell, etwas zuviel Absicht vielleicht, aber mit Herz, groß dafür die Bergner, eine, die es hat und daher absichtslos ist, wer sehen kann, der sieht es blitzartig zwischendurch und nebenbei: welche Tiefe, welch ungeheurer Reichtum an Persönlichkeit, welche Masse an Fühlen und Erleben. Ähnlich und daher auffallend war die Pauly, aber sie ist im hohen Alter fast verkümmert, der nötige ihr gemäße anregende Umkreis war nicht vorhanden. Ein Mensch mit kosmischen Horizonten unter kleinkarierten engen Stirnen geht zugrunde wie ein alter Baum, der sich krümmt und schließlich fällt, weil er nicht seinesgleichen neben sich hat.

3.9.1982

Ja, ich bin wohl eine Ketzernatur, ein närrischer Geist, und „leichter" im Verwirklichen meiner selbst hätte ich es in einem System, das gänzlich verschieden war von meinem Ideal, ich wäre radikaler und könnte meinen Extremismus austoben: vielleicht würde ich Bomben werfen. So aber, in einer Gesellschaft lebend, die den Kommunismus zum Ziel hat, muß ich mich zähmen, muß ich meine Antihaltung beschränken auf die Kennmarken der Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit, auf das Manko zwischen Soll und Haben. Das Nichthaben der Gesellschaft also ist mein Zielgebiet, und den Verschuldern des ewigen Fehlbetrages, den Fälschern der Idee, den Sachwaltern und Handlangern einer parasitären Machthabung und deren entwickelter Mechanismen, einer pathologischen Bürokratie, gilt mein ganzer Haß, denn hier gerät alles Menschliche unter die Räder. Die Realisierung einer Menschengemeinschaft, die das Ich mit dem Wir ersetzt, Kommunismus also anstatt Egoismus, ist mein Ideal. Die in mir lauernde geistige Militanz zur Bekämpfung aller Reaktion und Regression erfährt Bestärkung in den Methoden der materialistischen Dialektik, die kritische Motorik bekommt hier das nötige ideologische Fundament und den kürzesten Schußwinkel: die Personifikationen des „nichtantagonistischen" Widerspruchs laufen von selbst in meine Pinsel ...

1.10.1982

Sehr geehrtes Tagebuch, bitte entschuldigen Sie vielmals meine augenblickliche Fremdheit, ich sehe Sie jeden Tag, aus großer Entfernung erinnere ich mich unserer einstigen Nähe und bin ergriffen von meiner Stummheit. Der Kopf rast, glauben Sie mir, gern würde ich einige Worte davon sagen, aber es verschlägt mir die Sprache: ich kann mein Denken nicht fassen, zu schnell und zu vieles schießt mir durchs Hirn, es ist nicht aufzuhalten, ich schaue nur hinterher, die Schultern hängen, dann vergesse ich. Das Aufschreiben ist schwer, zudem geschieht es mehr und mehr, daß frühere Sätze mich aufregen: mancher meint, der Druck in seinem Kopf komme von der Dornenkrone, dabei hat die Natter Hybris den Schädel in ihren Stricken. Ja ich mißtraue mir und tu mir dabei weh. Sonst gehts mir danke, die Bilder machen sich, Bücher liegen geöffnet herum, Musik ist im Raum, und ich harre dem Wahnsinn, an der Tür klopft es, ich mache nicht auf.

8.10.1982

Nachtsam schwarzen Himmel das leise Schwingen der Wildgänse und ihre Schreie. Das jährliche Zeichen für mich, etwas von mir flieht mit.

Joachim Völkner, 1981
Von Königen und Künstlern oder ...
Kurzer Blick über die kalte Schulter

Über die Schulter in die Vergangenheit geschaut, kommt dem Spaziergänger so manche Frage in den Sinn. Was galt in alten Zeiten den Königen als Kunst? Wie wünschten die Könige sich ihre Künstler? Welche Musik, welche Bücher, welche Bilder waren „bei Hofe" willkommen? Nun, kein Ratespiel, wir wissen das. Als Kunst galt an diesen verstockten Orten alles, was die Stockflecke übertünchte, schönfärbte, alles was rosiggülden glitzerte, alles gefällige Brave, was nicht widersprach, kurz: alle Nichtkunst galt den Königen als höchste Kunst, als Ideal; und als vollkommenster Künstler wurde gefeiert, wer das Erwünschte entsprechend fabrizierte.

Ach, wie leicht ließen sich im Grunde doch die gekrönten Häupter übertölpeln, ein-zwei schmeichelnde Oden auf die Krone oder die jeweilige Religion, nach Belieben auch ein Komödchen fürs Volk, und der künstelnde Schmeichler war ein gemachter Mann, ihm gings fortan bestens. Der Hofkünstler, oft leider nicht dumm, eher gewissenlos, sein Lebenslauf ein Kriechgang, sein Standpunkt die Kniescheibe, und sein Organ ein Kussmündchen, so wars recht, so sollts bleiben. Was kümmerte da die Wirklichkeit, was ist das. Doch wehe der Vorwurf! Da dehnen sie ihre ordensbehängte Brust, werfen sich ins seidene Zeug: sie seien selbstredend der Kritischsten welche. Keiner von ihnen seis, der dies nicht ist. Demnach wissen sie um ihre Schwäche. Aber, nun mal gabs noch die Echten, die Wahrhaftigen, wie ergings denen? Sie, die das Entscheidende und Kunstnotwendige innehatten, nämlich soziales Gewissen, ethischen Instinkt, die hattens in jedem Fall nicht so leicht. Denn, wessen Kunst anderes aussagt, als die Könige es haben wollen, der stört natürlich das Gefüge, der nützt nicht, der gefährdet die Ruhe, die Ordnung, ergo: die Macht, der muß entweder auf der Stelle verstummen oder verschwinden. Für jene gab es Nektar, für diese den Schierling. Oder das Kreuz, das Fallbeil, die Kugel, das Zuchthaus, für die Ungehorsamen, die Ketzer, die unbotmäßigen Andersdenker war nichts im Staate schlecht genug.

Später dann, in Zeiten der Aufklärung, waren die kritischen Köpfe der Künstler sicherer, zumindest äußerlich. Wahnsinnig durften sie getrost werden, ebenfalls war es ihnen tunlichst gestattet, sich in die Stirnen zu schießen. Von nun an war aller kritischer Geist der gänzlich organisierten Zensur ausgesetzt, damit: dem Haß und der Willkür einer dümmlich devoten Bürokratenkaste, die in ihrem untertänigen Diensteifer nichts mehr und nichts weniger zu tun hatte, als jede Kritik, jede Infragestellung der herrschenden Ordnung von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Alle Weltanschauung, die nicht der Denkschablone der Machthabenden entsprach, mußte ausgeschaltet werden, wie ein störendes Licht. Alle Kunst, die den Interessen „des Hofes" nicht nützte, sondern widersprach, blieb in diesem allgewaltigen feinmaschigen Netzwerk hängen, hindurch ging nur, was der Krone in ihren falschen Glanz paßte; ein perfekt perfider Mechanismus zur Verhütung und Vernichtung jedes kritischen Einspruchs. Wer sich da doch erdreistete, im Netz eine Lücke, ein Sprachrohr, einen mutigen Verleger zu finden, dem ging es hart ans Leder, und er mußte machen, daß er außer Landes kam, in die Emigration. Das Exil: in der Fremde, ausgebürgert, isoliert, in einer fernen Matratzengruft elend zugrunde gehend, scvsieht ein König seinen Kritiker gern. Was wußten denn die Staatsbeamten, die Metternichs, die Hardenbergs, von Kunst? Nichts! Geschweige der Moral. Für die waren die Echten, die Heines, die Kleists, die Büchners nichts als Störenfriede, Querulanten, Wichtigtuer, übersensible Intellektuelle, die immer nur im Dreck wühlen; die herrschende Doktrin mußte sie zu Staatsfeinden erklären, damit die Gesetze greifen konnten. Aber auch hier: wehe der Vorwurf der Knebelung. „Es wäre genug gewesen, die Zensur zu schärfen oder Ihr Blatt ganz zu verbieten ..." So, 1811, der Staatskanzler Hardenberg an unseren Kleist, und so: „unparteiische Diskussionen", „zweckmäßiges Blatt", „gesetzliche Bedingungen", so war es gedacht, Kunst als Reproduktion hofstaatlicher Interessen, als gefällige Illustration der Sonnenseite, wer sich daran hielt, der fuhr gut, wer dies nicht tat, wer nach wie vor die Rückseiten der Ordnung im Auge hatte, der fuhr gar nicht, der wurde gestoppt. Künstler mit dieser Intention waren den Machthabenden ein Greuel, deren Motivation ein Rätsel: es war nicht zu begreifen, warum „diese Typen" ständig auf Schattenseiten wiesen, v/o doch des Hofstaates Sonne so herrlich schien. Die geeignetste Erklärung dafür konnte nur sein: geistesgestört, nicht normal, also: krank. Normal ist, wer sich anpaßt, die Regeln beachtet, das heißt: alle Dunkelheit übersehen und das gezüchtete Glimmern „des Hofes" als Sonne der Sonnen zu feiern, denn — so will es die Krone — das Licht sei typisch für den Staat, nicht das Dunkel — also nicht vorhanden. Wer dennoch eine Grauheit hervorzerrte, der konnte nur mit einem schlimmen Gegner, dem Teufel vielleicht im Bunde sein, ethisches Empfinden, Moral als Anstoß zu solchem Denken und Tun blieb allen staatlichen Schreibtischen ein Fremdwort.

Daß in Wahrheit nicht der Künstler, sondern die Gesellschaft krank war, todkrank, mußte den Sachwaltern dieser Macht, den Hütern solcher Ordnung verborgen bleiben, sie selbst waren ja der pathologische Keim, ihre skrupellose Machtgier das Fieber. Zudem: was wußten diese Verwalter in ihren Büros noch von Wahrheit, die Realität war ihnen längst entfremdet, ihre Sprache war die höfische Phase, ihr einziges Blickfeld das blanke Parkett, der rote Teppich, der Weg ihrer Karriere. Ein klassisches Vorkommnis: die Mängel der Sozietät dem darauf weisenden Künstler anzulasten; nicht das Erdbeben sei schuld, sondern der Seismograph, der Aufzeichner, sein Standpunkt sei unfest, eine fast diabolische Umkehrung von Ursache und Wirkung. Dieses tragische Unverständnis kritischer Kunst gegenüber traf den Künstler auch von zweiter Seite: auch das Volk, sofern es unwissend war, und das war es meist, diskreditierte ihn als störenden Außenseiter und elegischen Moralapostel; als Kunst galt diesem Volk einzig die Zote und das Schlagersingen, so mußte jede mahnende Wertung in Form eines Kunstwerkes als lebensfremd und höchst überflüssig angesehen werden, begriffen wurde es schon gar nicht. Das machte die Könige in dieser Sache stark, sie wußten diese Künstler isoliert und ausgeliefert, also zerstörbar; also zerstörten sie, was auch immer nach Widerspruch roch. Doch es waren nur Tagessiege, die Folgezeit und alle Zukunft gehörte den Opfern, letztlich und auf alle Zeit waren die Despoten die Verlierer; im Nachhinein mußten sie oder die Nachfolger ihre Irrtümer eingestehen, leuchtende Denkmäler wurden vom Sockel geholt, umgeschmolzen, wenn Bronze erzählen könnte... Denn, zu guter Letzt ist wahrer Kunst kein höfisches Unkraut, erst recht kein König gewachsen. Die Klugen unter den Herrschenden wußten das, sahen daher die echte Kunst als gefährlichsten Feind, dessen Feld aufmerksam zu beobachten sei; andere, die Klügeren, versuchten die Kunst in die höfischen Spielregeln zu integrieren, doch domestiziert werden konnte stets nur das künstelnde Mittelmaß, das Stärkere war nicht zu fassen. So brachen sie, diese gekrönten Häupter, sich am Ende stets das Genick: sie begriffen nicht den kausalen Charakter kritisch akzentuierter Kunst, unterdrückten sie, anstatt sie als Hilfe anzunehmen. Ihr Fehler: die wollten also die benannten Widersprüche in ihrem Staat nicht zur Kenntnis nehmen; und derlei hochgestapelte Kartenhäuser bedurften zu ihrem Einsturz oft nur eines Hüsteins der Putzfrau. Als dann die Putzfrau auf dem Thron saß, kam am dritten Tag einer, der deutete auf ein Staubkorn. Da wurde die Königin sehr böse, hob ihren Finger, und wenn sie nicht gestorben ist ...

Joachim Völkner
Über Vor- und ihre Nachbilder

Eine beliebte Frage an den Künstler ist die nach den Vorbildern, - nach der Antwort läßt sich so klug Aha sagen. Doch der Ton macht die Musik, welches „a" betont wird, dahinter stecken Welten. Alle Geister scheiden sich, wenn es um Kunst geht, dabei gibt es doch nur die eine, die wirkliche. Aber was ist das? Zu zeigen wäre es, doch zu beschreiben ist das wohl kaum; den Großen der Kunstwissenschaft ist das annähernd gelungen, den Kleinen dieses Faches bleibt hier nur blindes Tasten. Ich sehe bei einem erheblichen Teil unserer Kunstkritik einen gefährlichen Fehlverstand gegenüber dem Imperativ der künstlerischen Folge der Formen und deren Kausalität. Ohne dieses Wissen jedoch ist alle Kritik nur eklektisches Kritteln, ein rechthaberisches Gebräu von Schubfachvokabeln. Das Ergebnis derartigen Mittelmaßes ist dann dieses sattsam bekannte ahnungslose äußerliche Benennen von Werken, und, aus dieser Beschränktheit heraus, ein häufiges Degradieren von Bildern zu nur-Nach-Bildern, eifrig zählt der Schlauberger hier die Vor-Bilder auf. Als ginge es um einen Wettlauf, wo der eine der Erste, der andere nur der Zweite, also Nachläufer ist. Hier, für eine gültige Bewertung dieser Fälle, das rechte kritische Maß zu finden, bedarf es eben eines tiefen Instinkts gegenüber dem kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung im Spannungsfeld Künstler-Gesellschaft -Zeit. Die Dimension dieser Folgerungen ist mit anstudiertem kunsthistorischem Fachwissen nicht zu ermessen, Instinkt eben, ein intensives Gespür ähnlich dem der Menschenkenntnis, wäre unbedingte Voraussetzung, daß eine Kunstkritik wirklicher Kunst überhaupt gewachsen ist, daß sie der Kunst als gemäßer Partner überhaupt entgegentreten kann. Denn unterhalb dieser Ebene bleibt jede kritische Müh' eine verlorene, ein hilfloses Gezänk eines Zwerges. Nicht wenige Kunstkritikerhalten unsere Kunstszene für eine zirzensische Schau wo zu jeder Vor bzw. Ausstellung möglichst „ein Neuestes und Schärfstes" zu sehen sein muß, also ein 9-12facher Saltooder ein Seiltanz ohne Seil, jedenfalls kitzelnde Sensation. Ist nichts dieser Art zu entdecken, so heißt es „Nichts Neues! Stagnation! Die Bilder immer noch nur 4eckig". Diese gelangweilten Damen und Herren haben sicherden falschen Beruf, als Reporter gehören sie an die Pferderennbahn, in der Kunst sind sie und deren Gleichgesinnte fehl am Platz. Da fehlt ihnen alles Nötige, zum Beispiel intaktes Menschsein. Ohne diese innere Souveränität des Herzens ist aller Ausgangspunkt ungesund und kipplig, dienstuntauglich. Wo der Maßstab der menschlichen Werte zu kurz ist, kann die menschliche Tiefe eines großen Kunstwerkes nicht ermessen werden. Dort bleibt nur hilflose Vermutung, und aus dieser beruflichen Notdurft heraus endet Kunstkritik, wo sie eigentlich beginnen müsste, an der Oberfläche der Bilder. So werden dann allen Ernstes die Farben der Farben beschrieben, die Malweisen oder die Formen der Formen, ohne daß auch nur eines von innen her verstanden wurde. Als zwingendstes Kriterium einer Bewertung müssen ja hier, in dieser Notlage, Dinge ins Spiel, die dort nichts zu suchen haben, die aber wohl das Ein und Alles sind: der eigene Geschmack, die persönliche Vorliebe und Abneigung, jedenfalls unbrauchbare Subjektivismen, die aus Kunstkritik einen Modereport machen; einziges Objektivum ist daneben jenes sonderbare sportliche Punktsystem, das in seiner stumpfen Eindimensionalität die Plätze verteilt und Ränge festlegt. Dabei ist es doch in der Kunst ein Zugleich, wenn die Zeiten und ihre Zeichen dieselben oder ähnliche sind. Entstehende Ähnlichkeiten der Form sind dann weder Zufall noch Mangel, sie sind eher logisch, denn es gab und gibt zu allen Zeiten ein Bündnis verwandter Seelen, vor allem innerhalb einer nationalen Mentalität, und dieses Verwandtsein im Empfinden drückt sich aus in einer gemeinsamen Sprache. Neben dieser gibt es nun aber tatsächlich die Möchtegern-Vetternschaft, im Windschatten der Ahnen tüfteln hier die Epigonen. Wo aber ist der Unterschied? Es haben einige der Großen, die Größten sicher, einen derartigen Sog hinter sich, daß in ihrem Rücken alles mitgerissen wird, was sich dort hingezogen fühlte. Also fliegt erst einmal alles mit, gezwungenermaßen, dann aber entscheidet sich doch, wer sich lösen kann, wer durch eigene Kraft eigene Bahnen findet. Nach und nach werden die Brauchbaren den Bann verlassen und selbst Kreise ziehen, die meisten werden diese Kraft nicht haben, sie werden hinterherhinken müssen, bis sie auch das nicht mehr können oder es ihnen plötzlich langweilig wird, abrupt treten sie dann beiseite, stehen aber so unsicher auf eigenen Beinen, daß sie umgehend in einen anderen, neuen Strudel geraten, und so weiter. Ihr künstlerischer Lebensweg wäre ein Zickzack durch die Ismen; ihr Mangel an formalem Eigensinn zwingt sie, um arbeiten zu können, zu Obernahmen, zu Nachahmungen fremder Form und cleveren Montagen bewährter Mittel, die sie mundraubartig enteignen. Was gesunder Wille zur Gestaltung sein sollte, ist bei ihnen kränkelndes Stilwollen, Originalitätssucht, die das Originale ergrübelt anstatt es zu erfinden. In fernen Erdteilen ist es üblich, den Taifunen und Hurricans Namen zu geben; wollte man hier und heute die windschattigen Stürme benennen, die durch unsere Kunstlandschaft zausen, hießen einige ganz sicher und immer noch Beckmann oder Dix, auch Bacon oder Hrdlicka, vielleicht gar schon Vent oder Heisig. Wo aber nun echte mentale Verwandtschaft aufhört und tatsächliche Nachahmung anfängt, an diesem Punkt scheiden sich wieder die Geister, die einen jedenfalls sähen ihn lieber früher, die anderen später gesetzt. Wo der Punkt wirklich liegt, das muß zumindest der Kunstwissenschaftler genauestens erfassen können, damit sein kritisches Wort überhaupt in Betracht kommt. Ein Kunstwerk muß er vom Machwerk trennen können, das ist das Geringste und gleichzeitig Höchste seiner Berufung; sonst ist es nur Beruf.

Im übrigen aber sollten alle Beteiligten nach Möglichkeit doch in der Versuchung bemüht sein, die Sachlage nicht allzu verkrampft und verbissen zu sehen: die Künstler und deren Kritiker dürften sich allesamt viel leicht doch als Brüder fühlen, als eine einzige große Bruderschaft, die letztlich und endlich den gleichen Kampf kämpft, an der gleichen Front steht, den glei chen Feind hat: auf der Seite des Guten gegen das Schlechte. Und daß es nunmal unter Brüdern Große und Kleine, Starke und Schwache gibt, das liegt eben in der Natur der Sache und sollte nicht sonderlich auf regen, es geht so wie so seinen Gang, nur geeint geht es besser.

Joachim Völkner
Die Kunst der Deutschen Demokratischen Republik, um 1982

Die Kunst der Deutschen Demokratischen Republik ist nun mal eine deutsche Kunst, und nach nationalen Wesenszügen gefragt, gibts an entsprechenden Folgen nichts herumzuquengeln. Sowieso ist unsere Kunst national eigenständiger, als manche es meinen und mögen. Sie mußes sein, anders ist es nicht denkbar. Trotz Internationalismus und einiger brüderlicher Beziehungen wird sie in ihren stärksten Momenten niemals bruderländisch, europäisch oder universell sein, allenfalls sehr sozialistisch, doch immer deutsch. Wobei es hier nicht so sehr um die künstlerische Themenwahl geht, Geist und Inhalt unserer Kunst ist sehr wohl auch kosmopolitisch, mit „deutsch" ist gemeint die Art und Weise, wie die Besten der deutschen Kunst ein Thema angreifen, es geistig verarbeiten und es umsetzen in ein für sie typisches Maß an Ausdruck. Dieses Maß aller Dinge ist woanders anders, Schönheit und Harmonie spielen dort größere Rollen. Wie nun wäre Deutsches zu beschreiben? Eine Antwort, sowie das rechte Verständnis der Komplexität dieses Themas setzt ein gewisses Maß an Instinkt voraus, ohne das sich solche Sätze lesen wie nationalistische Selbstbeweihräucherung oder böhmische Dorf musik. Es ist halsbrecherisch, die von Quatschköpfen bewirkte Abgedroschenheit bezüglichen Vokabulars macht das Schreiben hier über zu einem Slalomgang. Zögernd umgeht man Worte wie kämpferisch, kritisch, tiefgründig, erregend, Attribute, die so verkehrt nicht sind; doch um zu beschreiben, was Grünewald, Beethoven, Kleist, Dix machten, sind diese Worte und Worte überhaupt gänzlich ungeeignet, geradezu ein Witz. In ihren besten und überzeugendsten Ergebnissen wird die Kunst unseres Landes das enthalten, was unser Fleckchen Erdein tausend Jahren auf diesem Gebiet in seinen künstlerischen Sternstunden hervorgebracht hat. Dabei leuchtetedieserStern immer dann besonders grell, wenn unser Fleck Erde ein Schwarzes Loch zu werden schien, sich politisch verfinsterte. Die deutsche Kunst wuchs an den Schranken, die die Landesherren zu ihrer Abschnürung zu erfinden sehr talentiert waren. Wenn ich jetzt behaupte, ein nationaler Wesenszug unserer Kunst sei nun ebenfalls dieses „Aufgrellen", so spüre ich beinahe schon beim Schreiben einige messerscharfe Blicke und die donnernde Frage, wo hier gefälligst ein Schwarzes Loch sei. Brav werde ich antworten, solches sei hier nicht, doch gänzlich fleckenlos fände ich unser Licht nun auch noch nicht.

Schönes Einvernehmen mit den Oberen und Unteren seinerzeit gabs wohl in deutschen Landen für den gesellschaftskritischen Künstler nie, nur den leisetretenden Kollegen ging es wohl, ihnen galt die Kunstliebe der Könige. Erst nachfolgende fortgeschrittenere Generationen begannen, die fürstlich Gehaßten zu lieben und die Geliebten zu hassen. Denkmäler wurden umgeschmolzen.

Gern wird von der Kunst als Seismograph der Gesellschaft gesprochen, wieder so ein abgegriffenes, doch deshalb nicht unrichtiges Wort. Jede unserer Ausstellungen kann so als Gradmesser zu sehen sein, inwieweit unser Land von inneren Erschütterungen, leichten Beben heimgesucht ist. Würde unsere Kunst so gesehen, ihre Empfindsamkeit geachtet, ihr Fingerzeig festgestellt, so wäre ihre Funktion endlich gesichert: sie könnte behilflich sein im Prozeß gesellschaftlichen Fortschritts. Doch gibt es Zeitgenossen, die der Kunst diese unbequeme Wirkung absprechen, für sie sind Erdbeben seit 30 Jahren abgeschafft, und seismographische Ausschläge auf unserem Gebiet führen sie zurück auf den „mangelhaften" Standpunkt des Bebenmessers: nicht die Welt habe gewackelt, lediglich der Herr Künstler.. .Entsprechende künstlerische Reaktionen heißen subjektivistisch eklektisch.

Das überwiegende Malen von Stilleben, Interieurs und nicht eben glücksstrahlenden Menschen, der Rückzug also vom propagandistischen Thema, vom Oberflächenoptimismus, ist von einem gewissen Grade an eine Art der Verinnerlichung, die als Protest gewertet werden muß. Verinnerlichung gesehen als Verweigerung; Ratlosigkeit, künstlerisch formuliertes Geseufz und Gesülz soll damit nicht aufgewertet sein. Je nach Mentalität und Schärfeder Sinne erlangt der engagierte Künstler ein mehr oder weniger fundiertes Weltbild, gegebenenfalls aber kommt es zur Verklärung, zur Resignation, dementsprechend dann zur Anpassung an Gängiges oder zur Ausflucht ins Ungegenständliche, womit dann die Engagiertheit aufgehoben ist, da die Stellungnahme nicht mehr kenntlich ist und als Nichtstellungnahme gewertet werden muß.

Jeder malt doch nur das, was er im Kopf hat, was er sieht in seiner Welt. Und es ist doch über ihn im Bild alles zu erfahren, nichts Inneres läßt sich vertuschen, Schwäche oder Kraft wird offenbar. Man nehme jedes Bild getrost wie eine Röntgenaufnahme von Kopf und Herz seines Schöpfers. Doch Diagnosen wollen gekonnt sein. Eine weitere, in unserem Boden tiefverwurzelte, doch immer noch sehr ertragreiche Möglichkeit ist der Gebrauch der Metapher, die künstlerische Lösung eines kritischen Themas über den Umweg der Mehrdeutigkeit. Scheint der direkte Weg, die Eindeutigkeit „ungünstig", so transponierte gerade der deutsche Künstler seine Ideen gern dorthin, wo er von den Scharf blickern seiner Zeit nicht greif bar war. Sein sozialkritisches Stück spielte dann meist unter Göttern, David kämpfte so gegen Goliath, während Ikarus das Weitesuchte.

Manches, was in der Kunstgeschichte als sehr deutsch gilt, hat in unserem Land Anpassungsschwierigkeiten. So haben es einige nicht leicht, ihre Beckmannschen Visionen abzuladen, strangulierte Körper und eine vergitterte Tektonik wollen ja so gar nicht in die Dialektik unseres real existierenden Alltags passen. So wird dann alles clever verpflanzt, meist in die Vergangenheit, oder dorthin, wo noch irgendein Faschismus verblüht oder der Pfeffer wächst. Soweit führts, wenn der Form wille das Thema bestimmt. Es hat zum Glück etwas nachgelassen, daß alle weinenden Frauen „Chilenische Mütter" heißen mußten. Solidarität ist doch etwas mehr als ein Bildtitel.

Auch inhaltlich will einiges sich nicht einfügen in offizielle Maximen, seelische Tiefenbohrungen sind nichteingeplant. Uns gehts doch gut, wir haben zu essen, trotzdem fällt Leidendes, Stürzendes, Ringendes zu malen, zu formen uns rätselhaft leicht. Leichter ais unseren Nachbarn, wenn da mal auf polnisch, französisch, italienisch „gerungen" wird, dann ist das manchmal sehr schön, doch selten menschlich ergreifend. Ja ja, natürlich gibts Ausnahmen. Es gibt Goya, es gibt Guttuso, und es gibt auch hier manch Zuckerguß, doch spricht das nicht gegen die geahnte Regel. Etwas ist schon dran, an uns, in uns, etwas, das, sollte es beschrieben werden, wiederum nur äußerst simpel gesagt werden kann, eine Anlage in uns wäre zu benennen, eine besondere Antenne, ein Empfänger für Notsignale, für seelische SOS, und vielleicht überhaupt nur ein Verstärker dieser Zeichen. Gute Erb-Anlagen jedenfalls. Wenn sie doch nur jeder von uns hätte.

Einsprüche hierzu von Blumenmalern oder Popartisten wären mir einleuchtend.

Schließlich, gefragt nach sozialistischen Aspekten, danach, worin die Zutat der DDR zur deutschen Kunst besteht, würde ich kurz sagen: vielleicht in neueren Zielen, in neueren Inhalten, in neueren Problemen und vielleicht im dialektischen Herangehen an letztere.

Wobei die Lehre von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze nicht die Gegensätze entschuldigend interpretiert werden sollte, diesem Prozeß würde sonst die Produktivität genommen, es käme zu keiner Negation. Ein Widerspruch, ein Mißstand wird nicht annehmbarer, wenn man ihn begründen kann, geschweige, daß er so überwunden wird.

Die erklärte Immanenz einer Problematik darf auch für den marxistischen Künstler kein Grund sein, ein Problem deshalb für nicht kritikwürdig zu halten. Lehrsatzbedingte Einäugigkeit führt zur künstlerischen Disqualifikation.

Der richtige Gebrauch seiner Augen, seiner Sinne, seines Verstandes und seines Herzens ist das, was über den Künstler entscheidet.

Das ist wohl nichts Neues, dafür aber etwas Wahres.

Joachim Völkner
Jakob , um 1982

Still und ohne jede Bewegung, als wäre er schon immer ein Baum, stand Jakob jetzt den dritten Tag mit ausgebreiteten, seltsam verbogenen Armen an der Stelle, wo vor unzähligen Jahren die letzte der Linden gestürzt war, und wurde mehr und mehr zu einem Ärgernis, denn die Menschen der Straße, die nach ihren verlorengeglaubten Vorteilen suchten, mußten einen mühsamen Augenblick lang um ihn herumgehen, wozu der große Plan ihnen das Recht vorenthielt. Die Herren, die, nachdem sie endlich gerufen wurden, seine Kennzahl in den Funk gaben und aus der Ferne sein Treiben weitere drei Tage genauestens beobachteten, mußten schließlich auch ihn eine Handbreit über dem Boden absägen, damit die Stelle frei werde für ein nachtblaues Auto, in dem Männer saßen, die durch verdunkelte Gläser hindurch Ausschau hielten nach Bäumen, die plötzlich, von einer Minute zur anderen, kämen, um still und regungslos zu verharren an Stellen, die gedacht sind zur Aufstellung weiterer achtäu-giger dunkler Wagen. Dabei hatten schon die Vögel begonnen, in Jakobs Zweigen ihre Nester zu bauen, von den Hajden außerhalb der Stadt waren sie gekommen, um über ihm zu wohnen und ihre ermüdeten Flügel in seinem Atem zu wärmen. Und Jakob ließ sie gewähren, auf seinen blutenden Beinstümpfen nun gehend, trug er sie behutsam durch die tobenden Straßen, auf der Suche nach Spuren früheren Lichtes und der Ruhe, die nötig wäre, die Nachricht zu hören.

Denn Jakob war gewiß, die Vögel würden es erfahren haben, und als eine grausame Last, die jedes Davonfliegen unmöglich machte, trügen sie es nun in sich; dieses einzige Wort, die letzten der schwarzen Bäume hätten, bevor sie sich unwiederbringlich zu Tode stürzten, es ihnen berichtet: die große Antwort, nach deren Auffinden alle Welt sich in Stücke reißt, in der letzten Minute ihrer Aufrechtigkeit wäre es in den sterbenden Wipfeln zu vernehmen gewesen, ein mehrsilbiges Rauschen, kaum hörbar, und die wenigen diese Zeit überlebenden Vögel, die wie immer in dem brüchigen Geäst ausruhten, würden es verstanden und darauf die Stadt verlassen haben und mit ihnen wäre das Wort. Jetzt aber, da die Vögel Kunde erhielten von Jakob, und längst wußten, daß auch ihre Tage gezählt sind, hatten sie also die karstigen Halden verlassen und waren, nach schwerlichem Flug, zurückgekehrt in die steinernen Schluchten, um in Jakobs Zweigen zu sterben. Von den wenigen Eiern, die sie mit ihren verbliebenen Kräften zu behüten suchten, fielen die meisten, als man Jakob immer wieder stieß, auf die Härte des Bodens und offenbarten so ihre Leere. Nur eines war übrig, aus reinem Weiß lag es schwankend über Jakobs Kopf, und, nachdem der letzte der Vögel tot und einem Papierdrachen gleich aus dem Nest in einen scharfen Wind fiel, der ihn endlich zu den Wolken hob, war es wie ein einziges Leuchten inmitten des finsteren Schweigens, und Jakob machte aus seinen Zweigen eine schützende Hülle, und, da alles Gehen ihm immer noch schwerfiel, waren seine schmerzenden Schritte von großer Sicherheit, so verließ er die Stadt und ging, seinen pochenden Schatz über sich haltend und ihn in seinem Hauch vor der Kälte bewahrend, endlich den Weg, der hinausführte und dessen samtweicher Boden Tage später noch eine Spur trug, die deutlich genug war, daß ein verdunkelter Wagen sich von seinem Platz lösen konnte, um ihr lautlos zu folgen.

Joachim Völkner
Herr K. ist unterwegs

Juli wars und heiß, gern flüchtete sich da der Kunstfreund in die kühle Aura der Galerien. Die große Goltzsche-Schau war zu dieser Zeit lange vorüber, auch die Scherben von Troja hatte unser Freund schon hinter sich und kürzlich sah und tagträumte er die wunderschönen Bilder und Objekte von Zabka. Nun aber mühte er sich auf einen neuen Weg: fast gleichzeitig offerierten zwei Berliner Maler einen kleinen Saal voll Bilder; Böhme und Tessmer, und unser Kunstfreund hatte einen Nachmittag lang mit beiden zu tun. - Aufmerksam sah er sich ihre Bilder an, erst die des einen, dann, nach einer UBahnfahrt, die des anderen. Danach setzte er sich an die Spree unter einen Baum auf eine Bank und dachte nach.

Beide, B. und T., haben ihre Liebhaber, die wie immer in solchen Fällen nur ihren Meistergelten lassen, und alles andere belächeln. Herr K. gehörte keinem der Lager an, also konnte er unbelastet und objektiv seine Meinung finden. Am Ufer sah er zwei Angler, der eine fing einen großen Fisch, der andere einen kleinen. „Der eine hats, der andere nicht", sagte Herr K. Der eine, der ist, wie er ist, und kann nicht anders, der andere sehr wohl; dieser eine malt, was er ist, der andere malt, was er sein möchte; der eine stapelt seine Steine zur ebenen Erde, der andere etwas höher. Hier, beim ersten, ist alles tiefempfunden, archaische, fast barbarische Frauenkörper sinds, deren lehmartige erdhafte Tonigkeit an die urige prometheische Erschaffung des Menschen erinnert, ebenso urhaft und unmittelbar gemalt; da stehen sie denn, diese Körper in der Dämmerung des Seins, unschuldig, schemenhaft, ausgeliefert den Mächten, aber groß und gewaltig in ihrer Menschlichkeit und eigentlich doch nicht zerstörbar. Der große Schatten kam über sie, und sie müssen bleiben. Im selben weichenden Licht scheinen auch die Äpfel auf dem Tisch, die Schüsseln, die Krüge, ebenso die Dächer, die Häuser, die Bäume, die Himmel. Alles im letzten Licht vor der Dunkelheit des Lebens, einmal noch glüht alles auf, der letzte stumme Augenblick vor der großen Schwärze. Doch alles hat die nötige Kraft und die Wärme von Menschen, daß man glauben kann an die Bewährung im Dunkel und an den Morgen danach.

Anders die anderen Bilder, da ist mit Erhellung nicht zu . rechnen, eine mondäne Müdigkeit beherrscht die Szene, eine Hingabe an die Unlust die Batterien sind leer, und so muß die Idee dekoriert werden im Strahl einer sterbenden Taschenlampe. Der Bild-Raum ist hier eine Probebühne, die Szenerie voll drapierter Gewolltheit. Beim Malen ist da zuviel Kalkül im Spiel, Absicht von Form. Die Inhalte sind eiskalt geplant und ungenügend empfunden, die Lösungen daher nicht überzeugend, was aber in dem bildfüllenden bzw. bildtarnenden schwarzen Gemauschel schwer zu überprüfen ist. Am auffallendsten zu erkennen ist der Mangel noch an den Körpern der „Knaben". Da aber das Ärmchen ach! auf einer Marmorsäule ruhet, steigt schwüle Melancholie zur Decke und lenkt davon ab. Fast meint man, aus den Bildern verbotene Düfte zu riechen, leises Seufzen zu hören, oder ein klebriges Rascheln von Palmwedeln. Auch sieht ja das Ganze so ausgesprochen danach aus, als müsste um die Gemälde herum ein schneeweißmarmorner Salon errichtet sein, wo in elfenbeinernen Krügen die Palmen säuseln...

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